Kathinka Marcks macht Odysseus zum modernen Helden. Foto: Weiß Quelle: Unbekannt

Von Gaby Weiß

Die Odyssee ist eines der ältesten Werke der abendländischen Literatur- und Kulturgeschichte, ein Klassiker, den eigentlich jeder kennen sollte. Nur wenige freilich können und wollen sich durch die 24 Original-Gesänge des Homer kämpfen. Mittlerweile liegt die Geschichte von den Irrfahrten des Odysseus in vielfältigen literarischen, musikalischen und dramatischen Bearbeitungen vor, für Erwachsene, für Jugendliche und sogar für Kinder. Eine sehenswerte Version der fantastischen Abenteuer hat die Erzählerin Kathinka Marcks im Rahmen der „Klasse Lesungen“ bei den Kinder- und Jugendbuchwochen der Stadtbücherei vorgestellt.

Kathinka Marcks braucht wenig, um ihre Zuhörer mitzunehmen: Ein hölzerner Hocker und ein großes Blech sind die einzigen Requisiten, die sie einsetzt. Denn sie erzählt aus vollem Herzen, mit Mimik und Gestik, mit dem Körper und vor allem mit ihrer Stimme. Was Worte nicht ausdrücken können, das vermitteln Töne, Klänge und Laute: Wispern, Zirpen, Weinen, Stimmenwirrwarr, Meeresrauschen, Donnergrollen und Sturm, Verzweiflung, Freude und Glück. Über das Mikrofon einer kleinen Loop-Station nimmt die in Freiburg lebende Künstlerin Tonspuren auf, gibt sie in Endlosschleife wieder und legt darüber erneut Töne, Klänge und Laute - dabei ist nichts aus der Konserve, sondern alles selbst, live und vor Ort eingespielt.

Verführung und Totenreich

So schafft sie auf der kleinen Bühne im Kutschersaal einen Raum, in dem das Meer tost, die schöngelockte Kalypso verführt, der grausame Zyklop mordet, das Totenreich lockt, die betörenden Sirenen klagen und die verschlingenden Meeresungeheuer Skylla und Charybdis wüten. Kathinka Marcks erzählt ausgesprochen lebendig. Mit ihrer klaren Sprache begeisterte sie das junge Publikum, das gebannt an ihren Lippen hing. Erst irritiert, dann fasziniert folgte das Publikum einer kurzen Passage in Neugriechisch.

Empathisch und eindringlich packte sie ihr Publikum und ging ihm mit großer Ernsthaftigkeit und Emotionalität unter die Haut. Schon in ihrer Vorbemerkung hatte sie die Gedanken der Zuhörer darauf gelenkt, dass es durchaus möglich ist, das, was Odysseus dort und damals passierte, ins Hier und Heute zu übertragen. So ermunterte sie die Jungen und Mädchen dazu, sich zu überlegen, was einen Helden wie Odysseus überhaupt ausmacht. „Für mich ist ein Held jemand, der mutig und stark ist und andere rettet, auch wenn er oft kurz vor dem Verzweifeln ist und nicht weiß, wie es weitergehen soll“, erzählte Kathinka Marcks. Dieser Odysseus, König von Ithaka, der gemeinsam mit seinen Gefährten bei der Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg fantastische Abenteuer durchlebt, tauge vielleicht gerade deshalb für sie als Vorbild für einen echten Helden, weil ihm sein Heldentum eben nicht einfach in den Schoß fällt. Ein Held, der trotz widrigster Umstände nicht aufgibt, der sich eben nicht den Göttern und dem Schicksal ergibt, sondern sein Geschick selbst in die Hand nimmt. Damit er endlich seine Frau wiedersehen und in seine Heimat zurückkehren kann.

Wo und was ist Heimat?

„Wo ist denn Heimat? Wo man herkommt? Wo man lebt? Wo man zuhause ist?“, fragte Marx die Kinder und erinnerte an die Menschen, die ebenfalls eine Odyssee hinter sich haben, seit sie in den vergangenen Monaten ihre Heimat verlassen haben, um in Europa zu leben. Und plötzlich wurde für die Kinder im Publikum diese uralte Heldengeschichte frisch und aktuell.