Mit dem Digital-Mikroskop können auch unterschiedliche Tinten sichtbar gemacht werden. Foto: Bulgrin - Bulgrin

Von Dagmar Weinberg

Bei dem prächtigen Pergament handelt es sich um ein Fragment aus einem aufwendig gestalteten Brevier. Im Stadtarchiv geht man davon aus, dass es von einem Priester der Stadtkirche, der Frauenkirche oder aber einer sehr gut ausgestatteten Pfründe benutzt wurde. Die Handschrift, die um 1300 datiert, wurde später in die einzelnen Pergamentblätter zerlegt, die dann wiederverwendet wurden. Aufgrund der Aufschrift weiß man, dass dieses Blatt als Einband der „Württembergischen Taxordnung von 1642“ verwendet wurde, die im Besitz der Esslinger Schmiedezunft war.

Recycling, also die Aufbereitung und Wiederverwendung schon einmal benutzter Rohstoffe, ist keine Erfindung unserer Tage. Papier wurde bereits in früheren Zeiten in großem Stil wiederverwertet. So band man Lagerbücher, Zinsverzeichnisse und andere Schriftstücke häufig in mittelalterliche Handschriften ein oder verstärkte Buchrücken mit dem Schriftgut. Wurden die historischen Bände restauriert oder, weil der Inhalt nicht mehr sonderlich interessant erschien, aussortiert, kamen die Fragmente zum Vorschein und wurden nicht selten aufgehoben.

„In jedem Archiv findet man einen Grundstock schriftlicher Trümmer, die unsere Vorgänger aufbewahrt haben, weil sie einfach zu schön zum Wegwerfen waren“, erklärt Joachim Halbekann, Leiter des Esslinger Stadtarchivs. Auch er hat Kartons mit Hunderten Fragmenten geerbt - vom Papierschnipsel bis zur ganzen Buchseite. Obwohl ihm klar war, „dass diese Kartons Wundertüten sind, in denen sich auch viele wahre Schätze verbergen können“, hatte sie bisher noch nie jemand systematisch durchgeschaut. „Für derartig aufwendige Arbeiten fehlen uns hier im Archiv die Ressourcen“, erklärt der Historiker.

Sarah Kupferschmied hat sich der Kartons angenommen. Die junge Frau möchte Geschichte studieren und absolviert im Esslinger Archiv ein freiwilliges soziales Jahr im Bereich Kultur. Sie hat die Überbleibsel aus dem Mittelalter gesichtet und Funde gemacht, die auch Professor Mark Mersiowsky, Lehrstuhlinhaber für Mittlere Geschichte an der Universität Stuttgart, „total spannend“ findet.

Der Mittelalter-Experte, der sich unter anderem mit der Paläografie, also der Entzifferung und Datierung alter Schriften, bestens auskennt, ist gemeinsam mit Studierenden immer mal wieder im Stadtarchiv zu Gast. „Denn das Esslinger Archiv ist eines der reichsten Stadtarchive im gesamten Südwesten Deutschlands“, sagt er. „Und die Reichsstadt war im Spätmittelalter einer der wichtigsten Stützpunkte des Reiches in unserer Region.“

So hat er gemeinsam mit Sarah Kupferschmied und Joachim Halbekann ein Projekt auf die Beine gestellt, bei dem Studierende der Uni Stuttgart versuchen, die Esslinger Handschriften zumindest in Bruchstücken wieder zu rekonstruieren. „Es ist ganz toll, wenn angehende Historikerinnen und Historiker mit Originalen aus dem 13. oder 14. Jahrhundert arbeiten können“, erklärt der Professor - erst recht, wenn die detektivische Kleinarbeit von Erfolg gekrönt ist.

Die Studierenden haben entdeckt, dass zwei Fragmente - in das eine war ein Zinsverzeichnis aus dem 16. Jahrhundert eingebunden, das andere diente einem Band des Esslinger Mühlenverzeichnisses als Hülle - aus ein und derselben Handschrift entnommen worden waren. „Je mehr Blätter man von einer Handschrift findet, desto klarer wird das Bild und desto tiefer unser Blick in die verlorenen Welten“, erklärt Mark Mersiowsky.

Das Esslinger Stadtarchiv ist zwar in seiner Gesamtheit reich an historischen Beständen. „Von der schriftlichen Kultur des Mittelalters ist aber, im Gegensatz zur Baukultur, kaum noch etwas vorhanden“, verdeutlicht Joachim Halbekann. „So haben wir zum Beispiel keinerlei liturgische Bücher aus dem Mittelalter.“ Denn die mittelalterlichen Bibliotheken der einstigen freien Reichsstadt sind bis auf wenige Reste in der Universitätsbibliothek Tübingen und der Pfarrbibliothek St. Dionys untergegangen. „Aus allen Esslinger Klöstern hat sich nur eine mittelalterliche Handschrift komplett erhalten“, erklärt der Archivleiter, der über die Zusammenarbeit mit der Uni Stuttgart sehr froh ist.

„Das ist eine klassische Win-Win-Situation.“ Denn zum einen haben die schriftlichen Puzzlestücke in vielen Fällen das Potenzial für weitere Forschungsarbeiten der Studentinnen und Studenten. „Und zum anderen gewinnen wir wichtige Mosaiksteine der mittelalterlichen Geschichte der Stadt und können zumindest erahnen, was hier einmal an Kulturgut vorhanden war“, weist Joachim Halbekann auf die Bedeutung des Forschungsprojekts hin. Um die fragmentierten Quellen zum Sprechen zu bringen, brauche es jedoch ein „hohes Grad an Fachwissen“.

Professor Mark Mersiowsky bringt nicht nur seine umfassenden Kenntnisse des mittelalterlichen Schriftguts in das Projekt ein. Bei seinen Besuchen im Stadtarchiv hat er auch Hilfsmittel dabei, die das Lesen der Schriften erleichtern „oder bei winzig kleinen Fragmenten überhaupt erst ermöglichen“,erklärt der Experte, während er ein mittelalterliches Schriftstück mit einem handlichen Digital-Mikroskop abscannt.

Durch unterschiedliche Lichtspektren - das Mikroskop arbeitet sowohl mit UV-Licht als auch mit infrarotem Licht - lassen sich nicht nur verschiedene Tintenarten unterscheiden. „Wir können auch Nachträge oder Radierungen sichtbar machen.“ Die Fotos werden digital gespeichert, so dass die Wissenschaftler sie in Ruhe analysieren können. „Die Schwierigkeit bei der Arbeit mit Fragmenten ist, dass in vielen Fällen ihre Entstehungszeit, die Herkunft und ihr ursprünglicher Zweck unklar sind“, erläutert Mark Mersiowsky. Gelingt es aber, sie zu entschlüsseln, „dann können wir daraus Rückschlüsse auf die Welt im Mittelalter ziehen“, verdeutlicht Joachim Halbekann.