Anne Wizorek fordert eine geschlechtergerechte Gesellschaft und wird dafür im Internet beleidigt sowie bedroht. Foto: Anne Koch/oh Quelle: Unbekannt

Vor drei Jahren ist Anne Wizorek praktisch über Nacht durch den Hashtag #aufschrei bekannt geworden. Mit der Twitter-Aktion hat sie das Thema Sexismus auf die Tagesordnung gebracht. Welche Reaktionen ihr Aufschrei hervorgerufen hat, wie sie persönlich den alltäglichen Sexismus erlebt und was sie unter einem „Feminismus von heute“ versteht, darüber spricht die 35-Jährige im EZ-Interview - und heute Abend in der Esslinger Stadtbücherei.

Sie sind durch die Twitter-Aktion #aufschrei bekannt geworden. Was war der Anlass dafür?

Wizorek: Auslöser war ein Blogeintrag auf kleinerdrei.org, ein Gemeinschaftsblog, das ich Mitte Januar 2013 gegründet habe und wo unsere Autorin Maike Hank am 24. Januar über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung auf der Straße schrieb. Das Thema beschäftigte eine Leserin, Nicole von Horst, so sehr, dass sie noch am späten Abend anfing, ihre eigenen Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen auf Twitter zu teilen. Ein einzelner Beitrag auf Twitter hat maximal 140 Zeichen, daher waren diese Berichte sehr auf den Punkt formuliert. Ich sah ihre Beiträge, war von ihrem Mut beeindruckt und wollte auch meine Erfahrungen teilen. Um die Beiträge besser bündeln zu können und auch zu verbreiten, also sichtbarer zu machen, schlug ich den Hashtag vor. Danach twitterten sie, andere Frauen und ich unter #aufschrei weiter.

Wie waren die Reaktionen?

Wizorek:Obwohl es mitten in der Nacht war und obwohl es nie einen direkten Aufruf zum Mitmachen von uns gab, beteiligten sich andere Frauen recht schnell an der Aktion und ließen sich quasi vom Mut anstecken. Von der Lehrerbemerkung „Mädchen können kein Mathe“ über Stalking, Belästigungen am Arbeitsplatz bis zur Vergewaltigung im Bekanntenkreis wurde die ganze Palette von Sexismus und sexualisierter Gewalt sichtbar. Auch einige Männer berichteten von sexualisierten Übergriffen. Viele hatten verdrängt, was ihnen passiert war und nutzten den Hashtag als Ventil.

Gab es auch andere Reaktionen?

Wizorek: Es gab auch Kommentare von Leuten, die Übergriffe herabspielten, Witze machten oder die betroffenen Frauen angriffen. Das nahm noch mal zu, nachdem die klassischen Medien das Thema von Twitter aufgriffen und dazu berichteten. Hier wurde das Thema mit dem Stern-Artikel zu Rainer Brüderle verknüpft, weshalb dann leider viele glaubten, wir hätten mit dem Hashtag eine Aktion dazu gemacht. Dabei war das ein zeitlicher Zufall, und uns ging es damals nur um unser Redebedürfnis zu Alltagssexismus und wie er mit sexualisierter Gewalt verknüpft ist.

Hat sich seither etwas verändert?

Wizorek:Es ist natürlich nicht möglich, jahrhundertealte gesellschaftliche Strukturen mit nur einem Hashtag zu verändern. Aber aufgrund der #aufschrei-Debatte hatte allein die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein Drittel mehr Anfragen. Menschen wurden für das Problem sensibilisiert. Auch ich treffe immer wieder gerade auf junge Frauen, die sagen, dass #aufschrei sie zu Feminismus und sogar Aktivismus gebracht hat. Insgesamt war es wichtig, gerade betroffenen Frauen zu vermitteln: Du bist nicht allein, du bist nicht schuld und du darfst dir Hilfe suchen. Als die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker eine Armlänge Abstand empfahl, um sich vor potenziellen Übergriffen zu schützen, kritisierten viele Leute schnell, dass es ja nicht darum gehen könne, Mädchen und Frauen Verhaltensregeln zu geben, anstatt die Täter für ihr Verhalten zu kritisieren. Dieses Bewusstsein empfand ich auch als ein positives Resultat der #aufschrei-Debatte.

Welche Rolle spielen die Übergriffe in der Silvesternacht bei diesem Thema?

Wizorek:Die aktuelle Debatte um die Übergriffe in Köln in der Silvesternacht zeigt, dass wir aufpassen müssen, hier nicht in rassistische Argumentationen zu verfallen. Wenn wir das Problem des Sexismus und sexualisierter Gewalt angemessen angehen wollen, muss die Debatte auch differenziert geführt werden.

Wie erleben Sie persönlich den alltäglichen Sexismus?

Wizorek: Ich erlebe ihn momentan vor allem über die Hasskommentare, mit denen ich im Internet konfrontiert bin. Es gibt dort zum Beispiel Menschen, die mich quasi seit dem Beginn von #aufschrei stalken, belästigen, diffamieren, beleidigen und bedrohen. Das allein dafür, dass ich eine geschlechtergerechte Gesellschaft fordere. Sie wollen mich mit diesen Kommentaren zum Schweigen bringen. Das Internet macht an vielen Stellen deutlich wie tief verankert sexistische, rassistische oder auch homophobe Vorstellungen eben immer noch sind - auch wenn wir uns gerne einzig und allein als fortschrittliche Gesellschaft empfinden möchten. Das sehen wir auch sehr konkret an der Hetze gegen geflüchtete Menschen, die in den sozialen Medien immer stärker zunimmt.

Wo sehen Sie die Ursachen für Sexismus und sexualisierte Gewalt?

Wizorek: Sexismus ist die Bewertung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts sowie die Erwartungshaltung an andere Menschen, dass sie lediglich klassische Geschlechterrollen verkörpern. Sexismus ist nicht dasselbe wie sexualisierte Gewalt. Aber es ist notwendig, beides im Zusammenhang zu diskutieren, da es keine voneinander losgelösten Phänomene sind. Sexualisierte Gewalt ist ein Symptom einer sexistischen Gesellschaft. Sexismus spielt eine entscheidende Rolle dabei, dass es überhaupt erst zu diesen Übergriffen kommen kann. Eine Gesellschaft und Kultur, die allgemein das Wesen und Handeln von Frauen abwertet und Frauen wie Männer auf bestimmte Stereotype beschränkt, sieht dann eben wenig bis keinen Anlass, übergrif-figes Verhalten zu bestrafen. Dabei geht es eben auch immer darum, den ungleichen gesellschaftlichen Status zwischen Männern und Frauen aufrechtzuerhalten.

In Ihrem Buch plädieren Sie für einen Feminismus von heute. Wie sieht der aus?

Wizorek:Der Feminismus von heute zeichnet sich zum einen darin aus, dass das Internet eine große Rolle spielt. Auch ich habe dank des Internets und feministischer Blogs verstanden, dass ich Feministin bin. Neben der Rolle als Emanzipationswerkzeug ist das Netz heutzutage aber auch nicht wegzudenken, wenn es um die Vernetzung mit Gleichgesinnten und feministischen Aktivismus geht, der so noch mal eine andere Reichweite entwickeln kann. Im besten Fall sollten hier Online und Offline immer miteinander verknüpft werden. Ebenso soll ein Feminismus von heute auch die Mehrfachdiskriminierung im Blick haben. Es geht eben nicht nur um die Bekämpfung von Sexismus, sondern auch um dessen Verschränkung mit Rassismus, sozialer Herkunft oder zum Beispiel auch Behinderungen. Diese Verwobenheit wirkt verschärfend darauf, wie Menschen in unserer Gesellschaft leider immer noch Respekt und Chancen verweigert werden.

Wie ist es um den Feminismus bei Frauen Ihrer Generation bestellt?

Wizorek:Es wird ja immer gerne behauptet, den Feminismus brauche es nicht mehr, er wäre sogar tot. Das kann ich aber keineswegs so beobachten und denke auch, dass Menschen die entsprechende Aussagen treffen, eben nicht genau hinschauen wollen. Gerade im Internet tut sich diesbezüglich nämlich sehr viel über soziale Medien. Sicher werden junge Menschen heute vielleicht erst mal später feministisch aktiv, da sie in der Schule noch das Bild einer gleichberechtigten Gesellschaft vermittelt bekommen. Aber gleichzeitig wachsen sie heutzutage auch mit ihren Lieblingsstars wie Emma Watson oder Beyoncé auf, die ganz selbstverständlich sagen, dass sie Feministinnen sind. Gerade Popkultur macht Feminismus auch noch mal zugänglicher, was ich sehr wichtig finde und womit ich selbst gerne arbeite.

Die Fragen stellte Dagmar Weinberg

Auf Einladung des städtischen Referats für Chancengleichheit kommt Anne Wizorek heute nach Esslingen. Von 19 Uhr an spricht und diskutiert sie im Kutschersaal der Stadtbücherei in der Webergasse 4 bis 6 mit den Gästen. Zu dem Vortrag sind Frauen und Männer willkommen. Der Eintritt ist frei.

Persönliches

Anne Wizorek wurde 1981 in Rüderdorf als Tochter einer Maschinenbauingenieurin geboren. Sie studierte Neuere deutsche Literatur sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, schloss das Studium aber nicht ab. Seit 2008 ist Anne Wizorek auf Twitter unter dem Account „@marthadear“ aktiv. Bekannt wurde sie durch den Hashtag #aufschrei, den sie im Januar 2013 gemeinsam mit anderen Feministinnen initiierte. #aufschrei wurde 2013 als erster Hashtag mit dem Grimme Online Award in der Kategorie „Spezial“ ausgezeichnet. Im Oktober 2014 veröffentlichte Anne Wizorek, die als Medienberaterin arbeitet, das Buch „Weil ein Aufschrei nicht reicht: Für einen Feminismus von heute“.