Sechs Frauen pro Schicht stehen hilfesuchenden Wasen-Besucherinnen zur Seite. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Mit der Wasenboje bietet die Stadt Stuttgart Besucherinnen des 176. Cannstatter Volksfests eine neue Anlaufstelle an. Vorbild ist ein Projekt auf dem Münchner Oktoberfest.

Egal ob Körperverletzung, Taschendiebstahl oder Beleidigung – etwas mehr als 800 Straftaten sind im vergangenen Jahr beim Cannstatter Volksfest polizeilich registriert worden. „Die Zahl ist seit 2017 rückläufig“, sagt Jörg Schiebe, Leiter des Reviers 6 in Bad Cannstatt. Die Corona-Pause natürlich ausgenommen. Sexualdelikte fließen ebenfalls in die Statistik mit ein, machen aber nur einen kleinen Teil aus. Bis zu 20 würden im Lauf einer Veranstaltung oder im Anschluss angezeigt werden. Tendenzen könne man aufgrund der niedrigen Fallzahlen hier nicht nennen, so der Wasen-Polizeichef.

Abgesehen von einer deutlich höheren Dunkelziffer wird nicht jede Volksfest-Besucherin direkt zur Polizei gehen, wenn sie von einem Betrunkenen bedrängt oder sich in einer betrunkenen Gruppe unwohl fühlt. Für hilfesuchende Mädchen und Frauen gibt es in diesem Jahr eine neue Anlaufstelle: die Wasenboje, die sich direkt neben der Wasenwache, also mitten auf dem Festgelände, befindet. Speziell geschulte und ausschließlich weibliche Fachkräfte helfen im Fall von Belästigung, Bedrohung, Diskriminierung oder in anderen kritischen Situationen. Aber auch bei Alltagsproblemen, beispielsweise, wenn der Handyakku leer ist, jemand seine Gruppe verloren hat oder Hilfe für den Nachhauseweg benötigt wird.

Subjektives Sicherheitsempfinden wichtig

„Verbale und physische Gewalt gegen Frauen ist ein strukturelles Thema – leider auch beim Feiern. Es braucht noch immer Schutzräume für Frauen und Mädchen, denn Sexismus und sexualisierte Gewalt sind strukturell bedingt, solange sie von großen Teilen der Gesellschaft akzeptiert werden. Es gibt genug Studien, die belegen, wie der Einzelne in der Menschenmenge enthemmt werden kann“, sagte Barbara Straub, die Leiterin der städtischen Abteilung für Chancengleichheit, als sie das Projekt gemeinsam mit Sicherheitsbürgermeister Clemens Maier am Mittwochnachmittag auf dem Cannstatter Wasen vorstellte. Er hofft, dass die Mitarbeiterinnen nicht allzu viel gebraucht werden und insgesamt alles friedlich bleibt. „Wir wollen ein Stück Sicherheit vermitteln“, so Maier. „Nicht nur objektiv, dass tatsächlich nichts passiert, sondern auch das subjektive Empfinden. Wenn ich ein Problem hätte, dann könnte ich dort hingehen und mir helfen lassen.“ Dieses Wissen trage auch schon zu einem Gefühl der Sicherheit bei. „Speziell auf dem Volksfest, wo doch viel los ist, wo viele Menschen auf engem Raum sind, wo es hoch hergeht und auch Alkohol im Spiel ist. Das senkt ja bekanntlich die Hemmschwelle“, sagt der Bürgermeister, der sich freut, dass das Projekt so zeitnah umgesetzt worden ist.

Vorbild für die Wasenboje ist die „Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen“, das Pendant gibt es auf dem Oktoberfest schon seit zehn Jahren und hat sich offenbar etabliert. „Wir haben uns natürlich im Vorfeld mit den Münchner Kolleginnen ausgetauscht“, sagt eine der Projektverantwortlichen, Franziska Haase-Flaig. „Und sind dann zu dem Schluss gekommen, dass auch in Stuttgart die Zeit reif ist, um solch ein strukturelles Angebot zu machen.“ Ganz überzeugt schien das kleine Organisationsteam noch nicht, als es Anfang des Jahres an die Umsetzung ging. „Als wir die Stellen ausgeschrieben haben, rechneten wir mit wenig Rückmeldungen“, so Haase-Flaig. Die Resonanz sei aber überwältigend gewesen. „140 Bewerbungen sind bei uns eingegangen.“ Auf dem Wasen werden 55 Fachfrauen, die alle über eine Ausbildung und Berufserfahrung in psychosozialen Bereichen verfügen, mit Unterstützung von Studentinnen im Zwei-Schicht-Betrieb von 13 Uhr bis Festende im Einsatz sein. „Sechs pro Schicht“, sagt Haase-Flaig.

Wasenboje auch bei der Fußball-EM?

Zunächst soll das Projekt, das unter anderem vom Frauenberatungszentrum Fetz, dem Polizeipräsidium Stuttgart, der Mobilen Jugendarbeit, der Stuttgarter Straßenbahnen AG, der Taxizentrale und der Jugendherberge Stuttgart unterstützt wird, drei Jahre auf dem Volks- und Frühlingsfest evaluiert werden. Sollte es sich etablieren, wäre auch eine dauerhafte Umsetzung vorstellbar, ebenso die Erweiterung auf andere vulnerable Gruppen. „Ich bin zuversichtlich, dass wir im Rückblick erkennen, dass die Wasenboje auch in Zukunft seine Berechtigung haben wird“, sagte Bürgermeister Maier. Ohne der Auswertung vorgreifen zu wollen, blickte er schon in Richtung der Fußball-Europameisterschaft im nächsten Jahr. „Auch dort könnte man solch eine Anlaufstelle anbieten. Wir werden beobachten, wie sie angenommen wird, stehen aber bereit, falls Bedarf da ist.“ Weitere Infos zum Projekt sind unter wasenboje.stuttgart.de zu finden.

Die Nachtboje Stuttgart

Die Idee
Neben dem temporären Angebot auf dem Volksfest hat die Stadt Stuttgart auch ein kontinuierliches Angebot im öffentlichen Raum geschaffen, um die Sicherheit und das Sicherheitsempfinden von Mädchen, Frauen und anderen vulnerablen Personengruppen wie der LSBTTIQ-Community weiter zu verbessern. Das Projekt „Nachtboje“ macht Einrichtungen der Nachtwirtschaft wie Imbisse, Kioske, Restaurants, Bars oder Hotels sichtbar, die denjenigen eine offene Tür bieten, die sich nachts in einer Situation unwohl oder unsicher fühlen.

Das Angebot
Ein Glas Wasser, eine Sitzgelegenheit oder der Ruf eines Taxis, gehören zum kostenfreien und anonymen Angebot der teilnehmenden Einrichtungen. Beratung nach Belästigung, Bedrohung oder sexualisierter Gewalt kann hier nicht geleistet werden, allerdings bekommen Betroffene den Kontakt zu professionellen Beratungsstellen vermittelt. Weitere Informationen zum Projekt Nachtboje finden sich unter www.nachtboje.stuttgart.de.