Welche Folgen 52 Kriegsmonate für die Menschen in Esslingen hatten, ist in dem Buch „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ dokumentiert, das Martin Beutelspacher (links) und Joachim Halbekann herausgegeben haben. Foto: Weller - Weller

Das kulturhistorische Langzeitprojekt „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ war ein Wagnis. Denn in den Beständen des Stadtarchivs und des Stadtmuseums gab es deutliche Leerstellen.

Esslingen Den Ersten Weltkrieg und die Folgen für die Esslinger Bevölkerung in einem mehr als vier Jahre dauernden, kulturhistorischen Projekt darzustellen, war ein Wagnis. Denn in den Beständen des Stadtarchivs und des Stadtmuseums gab es deutliche Leerstellen. Wie die gefüllt werden konnten, schildern der Leiter des Stadtarchivs, Joachim J. Halbekann, und der Leiter der Städtischen Museen, Martin Beutelspacher, im EZ-Interview.

Woher kam Ihre Zuversicht, dass Sie das Projekt 52 Monate lang durchhalten?
Halbekann: Das Projekt „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ war ja als Vermittlungs- und Forschungsprojekt angelegt. Und da weiß man am Anfang nie, was dabei rauskommt. Doch es gehört zum öffentlichen Kulturauftrag, Dinge zu tun, die andere nicht machen. Unser Ziel war es, neue Objekte und Erkenntnisse zu gewinnen. Aufgrund der gut einjährigen Vorbereitungsphase des Projekts wussten wir, dass zwar Lücken vorhanden waren. Aber wir wussten auch, was da war. Und das hat die Zuversicht gesteigert. Beutelspacher: Bei der Durchsicht unserer Bestände hatten wir nebulöse Stellen entdeckt, von denen klar war, dass einiges rauskommen würde, wenn wir mal genauer hinschauen. Deshalb war auch ich von Beginn an sehr zuversichtlich.

Konnten Sie die Bevölkerung als Informationsquelle und Leihgeber gewinnen?

Halbekann: Ja, zwar nicht so überströmend, wie es sich im ersten Jahr abgezeichnet hatte. Aber im Großen und Ganzen hat die Einbeziehung der Bevölkerung ganz gut funktioniert.

Beutelspacher: Dass am Ende nicht so viele Objekte bei uns angekommen sind, wie wir uns erhofft hatten, liegt daran, dass hundert Jahre eine wahnsinnig lange Zeit sind.

Heißt das, dass nicht mehr viel vorhanden ist?

Beutelspacher: Entweder ist nicht mehr viel vorhanden oder das, was da ist, kann nicht mehr dechiffriert werden. Ich habe mal in der eigenen Familie recherchiert. Von der Objektseite her ist es extrem dürftig, obwohl meine Familie ziemlich „standorttreu“ war.

Halbekann: Wir wissen schlichtweg nicht, ob in Esslingen nicht doch noch mehr aus dem Ersten Weltkrieg vorhanden ist. Im Verlauf des Projekts haben wir aber immer wieder erlebt, dass die Erben Dinge, die im Schrank stehen, zeitlich nicht mehr zuordnen können. Oder sie können sich nicht vorstellen, dass Alltagsgegenstände für uns überhaupt interessant sind.

Beutelspacher: Für viele unserer Leihgeber war es erstaunlich, was wir zu den einzelnen Objekten herausgefunden haben. Für manche grenzte es an ein Wunder, dass es Objekte gibt, die ein Phänomen in sich tragen und dieses auch ausdrücken.

Für Schlachtengetöse und Waffen interessieren sich in der Regel eher Männer. Ist es Ihnen gelungen, mit dem Thema auch Frauen anzusprechen?

Beutelspacher: Wir haben bei den Veranstaltungen zwar nicht genau durchgezählt. Aber es waren immer auch sehr viele interessierte Frauen da. Denn bei vielen der 52 Objekte ging es ja nicht um Waffen und Gewalt, sondern um die Heimatfront, also den Kriegsalltag in Esslingen, dem man sich auf unterschiedliche Art und Weise nähern kann.

Und wie ist das Projekt bei Jugendlichen angekommen?

Beutelspacher: Es ist sehr schwer, an die Schulen heranzukommen. Das ist auch für unsere Museumspädagogik ein Dauerthema. Weil die Lehrpläne immer weiter verdichtet werden, können die Lehrer kaum noch einen Schritt in ein anderes Terrain wagen. Dafür können weder die Schulen, noch die Lehrer etwas. Aber für uns als außerschulische Partner ist das ganz schwierig.

Halbekann: Das Projekt hatte ja nicht nur eine historische, sondern auch eine kulturelle Perspektive. Und durch die vielen unterschiedlichen Kulturveranstaltungen ist es gelungen, fast alle Altersgruppen an irgendeiner Ecke des Projekts anzubinden.

Zum Abschluss des Projekts haben sie ein dickes Buch herausgegeben. Welchen Anspruch hat das Buch?

Halbekann: Das Buch sichert viele Ergebnisse des Projekts. Es ist sowohl für Leute mit wissenschaftlichem Hintergrund als auch für interessierte Laien konzipiert. Deshalb haben wir darauf geachtet, dass die Länge der einzelnen Beiträge im Rahmen bleibt und die Texte nicht verquast, sondern verständlich formuliert, aber trotzdem korrekt sind und sich auf der Höhe der Forschung bewegen. Das Buch ist so angelegt, dass man sich vertiefen, lediglich Texte zu einzelnen Objekten lesen oder auch nur darin blättern kann. Bei der Gestaltung haben wir ebenfalls darauf geachtet, dass die Texte leicht zugänglich sind.

Beutelspacher: Auch Leute, die nicht so lesegewohnt sind, können in dem Buch blättern und bleiben dann vielleicht an irgendeiner Stelle hängen. Ich gehe davon aus, dass wir vor allem mit dem Kern des Buches, nämlich den 52 Objekten, nah am Publikum sind. Und das ist für mich entscheidend.

Welches der 52 Ausstellungstücke, die zurzeit ja auch im Stadtmuseum gezeigt werden, ist zu Ihrem Lieblingsobjekt geworden?

Beutelspacher: Das Burschenband von Eugen Wagner und die Briefe, die er an seine Verbindung geschrieben hat, fand ich spannend. Sie zeigen das Bild eines spätpubertären jungen Mannes, der, zumindest am Beginn des Krieges, mit dem Kopf durch die Wand wollte. Das zweite extrem spannende Objekt waren die Erinnerungsstücke des Kolonialoffiziers Ernst von Raben aus Kamerun. An ihm hat mich fasziniert, dass er mit dem englischen Offizier, dem er sich ergibt, aushandelt, dass der noch den Lohn für die Askari bezahlt. In beiden Fällen werden durch Objekte Menschen sichtbar.

Und welches Objekt fasziniert Sie am meisten?

Halbekann: Für mich ist es ganz klar die Brieftaubenmeldung. Wir haben zunächst eine merkwürdige, winzige Kapsel ohne jegliche weitere Information bei uns im Stadtarchiv in einem Nachlass gefunden. Ein Restaurator hat sie geöffnet, darin ein telegrammähnliches Schriftstück entdeckt und lesbar gemacht. Der Text hat dann klargestellt, dass hier ein Mensch der Brieftaube eine Nachricht mitgegeben hatte, der drei Panzer auf sich zukommen sah, also ein Mensch in Todesangst. Es gibt wenige Objekte, mit denen man so nah an einen Menschen herankommt.

Beutelspacher: Ich könnte mir gut vorstellen, dass eines Tages größere Museen auf uns zukommen, um sich dieses besondere Objekt bei uns auszuleihen.

Wurden durch das Projekt also auch Schätze gehoben?

Beutelspacher: Auf jeden Fall. Neben der Brieftaubenhülse zähle ich den Schreiber Verlag dazu. Denn bisher hat man eher das Schöne gesucht, und so lag die kriegspropagandistische Seite im Hintergrund. Doch der Schreiber Verlag hat ins gleiche Horn gestoßen wie die anderen Verlage. Und das ist jetzt dokumentiert.

Halbekann: Für überregional bedeutend halte ich auch die im Buch abgedruckten Briefe der Esslingerin Gertrud Förster an ihren Mann. Denn in den über 700 Briefen sieht man, wie sich diese Frau durch den Krieg verändert hat. Fachleute haben uns bestätigt, dass es so umfangreiche Konvolute von Briefen von der Heimat an die Front nicht allzu häufig gibt. Diese Briefe waren zwar ordentlich verzeichnet, lagen bisher bei uns im Archiv aber einfach nur so rum. So hat das Projekt auch dazu geführt, dass wir beiden unsere Läden jetzt besser als vorher kennen.

Beutelspacher: Wir wissen zwar noch immer nicht alles über den Ersten Weltkrieg in Esslingen. Aber auch unsere Bestände sind jetzt einmal unter dem Stichwort Erster Weltkrieg durchgekämmt worden.

Das Interview führte Dagmar Weinberg.

Das Buch „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ ist im Jan Thorbecke-Verlag, Ostfildern erschienen und für 25 Euro im Stadtarchiv, Stadtmuseum, bei der EST sowie im Buchhandel zu haben. An dem mehr als 400 Seiten starken Werk haben 29 Autorinnen aus dem In- und Ausland mitgearbeitet. Neben Aufsätzen zum Projekt und zur Geschichte des Ersten Weltkriegs findet man in dem Buch alle 52 Objektbeschreibungen sowie eine Fotostrecke und eine neu erarbeitete Esslinger Weltkriegschronologie der Jahre 1914 bis 1918. Fast alle Abbildungen sind direkt auf Esslingen bezogen und zum überwiegenden Teil bisher unveröffentlicht.

Zur Person

Joachim J. Halbekann ist 1962 in Rheinbach im Rhein-Sieg-Kreis geboren. Er hat an der Universität Köln Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte studiert, war dort Mitarbeiter im Kunsthistorischen und Historischen Seminar. In seiner Dissertation hat er sich mit dem rheinischen Grafengeschlecht von Sayn beschäftigt. Nach dem Referendariat für den höheren Archivdienst in Stuttgart und Marburg war er Wissenschaftlicher Archivar im Gräflich von Bodmanschen Archiv in Bodman am Bodensee. Für seine Dissertation ist ihm 1997 der Offermann-Hergartenpreis der Universität Köln verliehen worden. Bevor er im April 2002 als Leiter des Stadtarchivs nach Esslingen kam, war der promovierte Historiker Wissenschaftlicher Archivar am Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg in Hohenheim.

Martin Beutelspacher ist 1955 in Tübingen geboren. Nach dem Abitur ist er zum Studium generale ans Tübinger Leibniz Kolleg gegangen. 1978 begann er mit dem Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und der Geschichte an der Universität Tübingen, das er als Magister abgeschlossen hat. Von 1984 bis 1986 hat er im Bundesarchiv in der Projektgruppe für ein Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mitgearbeitet. Bis 1997 war er zunächst Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mindener Museum für Geschichte, Landes- und Volkskunde sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Stadtmuseum Tübingen. Von 1997 bis 2009 hat er das Mindener Museum für Geschichte, Landes- und Volkskunde geleitet. Seit 2010 ist er Leiter der Städtischen Museen Esslingen.