Typisch für ein Sängerbundfest jener Zeit ging es 1896 in Stuttgart so patriotisch wie karnevalistisch zu. Quelle: Unbekannt

In Zeiten der Globalisierung erscheinen rein nationale Chortreffen als ein Anachronismus. Ab dem späten 19. Jahrhundert ließen sich auch die Sänger von der nationalistischen Stimmung anstecken.

Von Daniel Schalz

Stuttgart ist ganz Chor!“ lautet das Motto des Deutschen Chorfests 2016. Es könnte aber auch „Zurück zur Quelle!“ heißen. Denn wenn sich vom 26. bis zum 29. Mai 20 000 Sängerinnen und Sänger in der Landeshauptstadt versammeln, kommen sie gewissermaßen nach Hause: Erstmals trafen sich 1827 in Plochingen drei Liederkränze aus Stuttgart, Göppingen und Kirchheim, um zusammen zu singen. Die Idee der Sängerfeste, welche übrigens die Schweizer bereits einige Jahre vorher gehabt hatten, wurde schnell von anderen Liederkränzen aufgegriffen: „Bis Mitte des 19. Jahrhunderts sind im deutschsprachigen Raum bereits mehr als 200 Chor- und Liederfeste belegt“, sagt Alexander Arlt, Musikwissenschaftler und Archivar am Sängermuseum Feuchtwangen.

Anlässe waren häufig offizielle Feierlichkeiten, etwa der Geburtstag des Königs. Doch während auf den öffentlichen Veranstaltungen die Politik weitgehend außen vor blieb, spielte sie bei nicht-offiziellen Programmpunkten eine wichtige Rolle: Durch die verschlossenen Türen der Hinterzimmer drangen Gesänge mit revolutionären Texten, die sich gegen die deutsche Kleinstaaterei auflehnten. Spätestens beim ersten allgemeinen deutschen Sängerfest 1845 in Würzburg mit 1600 Teilnehmern wurde deutlich erkennbar, dass der größte Teil der Sänger hinter der Nationalbewegung stand, die für Demokratie und einen einheitlichen deutschen Staat kämpfte.

Mit den Sängertreffen, die trotz der gescheiterten Revolution von 1848/49 in den 1850er-Jahren ihren Höhepunkt fanden, verbanden die Organisatoren zudem die Hoffnung, dass das gemeinsame Singen soziale Gegensätze mildern und die Gesellschaft einen könne. Der politischen Entwicklung waren die Sänger um fast zehn Jahre voraus, als sie nach einem Beschluss auf dem Sängerfest 1861 in Nürnberg im darauffolgenden Jahr den Deutschen Sängerbund gründeten - erst 1871 wurde die nationale Einheit dann auch staatliche Wirklichkeit.

So ließe sich die Entwicklung der deutschen Sängerfeste als freiheitlich-fortschrittliche Erfolgsgeschichte erzählen. Doch nach der Bismarck’schen Reichsgründung 1871 und mehr noch in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts ließen sich auch die Sänger von der nationalistisch-chauvinistischen Stimmung anstecken. Bereits 1928 wurde das monumentale Sängerfest in Wien zu einer Manifestation „anschlusswilliger“ Österreicher. In Reden, Aufmärschen und auch musikalischen Beiträgen wurde die „Heim-ins-Reich“-Kampagne der Nazis vorweggenommen.

„Nach 1933 war die bürgerliche deutsche Chorbewegung dann komplett in die nationalsozialistische Propagandamaschinerie eingebunden“, sagt Alexander Arlt. Ein Ausdruck dessen war vor allem das einzige Sängerfest während der Nazi-Herrschaft 1937 in Breslau: Die als „reichswichtig“ eingestufte Massenveranstaltung wurde zu einer politischen Inszenierung. Den pseudosakralen Höhepunkt bildete die mit 500 000 Menschen durchgeführte „Deutsche Weihestunde“, bei der sowohl Adolf Hitler als auch Joseph Goebbels zu den Sängern sprachen.

Geschickt nutzten die Nazis für ihre Zwecke die ungeheure Wirkung, die von riesigen Gruppen gemeinsam singender Menschen ausgehen kann. Und auch wenn es nicht die Sängerinnen und Sänger waren, die Fahnenaufmärsche mit Massengesang erfunden haben, erschwerten solche Assoziationen doch den Neubeginn nach dem Ende des Krieges. Als der Philosoph Theodor W. Adorno 1956 von strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Singbewegung und Faschismus sprach, brachte er die Vorbehalte der fortschrittlichen Intellektuellen jener Zeit auf den Punkt: Dem Chorgesang haftete Ideologisches, Reaktionäres und Deutschtümelndes an. Und tatsächlich bestätigten die Feste 1951 in Mainz, 1956 und 1968 in Stuttgart sowie 1962 in Essen häufig das Bild, das jene Kritiker von Chören in Deutschland hatten.

Um sich klar hiervon abzugrenzen, hatte es der aus dem Deutschen Arbeitersängerbund (gegründet 1908) hervorgegangene Deutsche Allgemeine Sängerbund (DAS) freilich schon früh mit eigenen Festen versucht: Bereits 1928 organisierten die Arbeitersänger erstmals ein Fest in Hannover, woran man 1951 in Frankfurt und 1954 wiederum in Hannover anknüpfte. „Dort wurde im Gegensatz zu den Festen des Deutschen Sängerbunds großer Wert auf politisch korrektes Repertoire gelegt“, sagt Wolfgang Schröfel, langjähriger Vize-Präsident des DAS.

Jedoch erwies sich für den DAS die Konkurrenz des Deutschen Sängerbundes (DSB), zu dem nach dessen Neugründung 1949 viele Chöre zurückkehrten, als zu mächtig, um regelmäßig eigene Feste auf die Beine zu stellen. Stattdessen suchte man den Kontakt zu Sängern aus anderen Ländern - auch hierin unterschied man sich von den Festen des DSB. Ab 1973 organisierte der internationale Zusammenschluss der Arbeitersänger, die IDOCO (Internationale des Organisations culturelles ouvrières), alle zwei Jahre Chortreffen mit Ensembles aus ihren elf europäischen Mitgliedsländern. Zu deren Beginn wurde gemeinsam die „Internationale“ angestimmt, zum Abschluss sangen alle „Die Gedanken sind frei“.

Die Feste der IDOCO erfreuten sich im Laufe der Jahrzehnte wachsender Beliebtheit: Während in den 70er-Jahren jeweils nur rund ein Dutzend Chöre teilnahmen, waren es 1985 in Linz bereits 31, 1989 in Dortmund 99 und 1998 im finnischen Vaasa sogar mehr als 100. Als attraktiv wurden von den Chören auch die seit 1983 in die Feste eingebundenen Wertungssingen angesehen. „Mit diesem Konzept waren wir der bürgerlichen Sängerbewegung um einiges voraus“, sagt Schröfel.

Nachdem es 2008 in Goslar ein letztes IDOCO-Fest gegeben hatte, löste sich der Verband 2013 auf. Die Unterteilung in bürgerliche und Arbeitersänger erwies sich als längst nicht mehr zeitgemäß. Folgerichtig hatten schon 2005 DSB und DAS zum Deutschen Chorverband (DCV) fusioniert, der mit dem Deutschen Chorfest 2008 in Bremen seine „Nagelprobe“ zu bestehen hatte, wie es sein damaliger Präsident Henning Scherf nannte. Und die glückte, wovon Schlagzeilen in der Presse wie „Tausende im Kanon vereint“ künden. Einige alte Zöpfe waren auch bei den DSB-Festen schon Jahrzehnte zuvor abgeschnitten worden: Einen feierlichen Fahnenmarsch gab es zum letzten Mal 1968 in Stuttgart, 1976 in Berlin wurde erstmals ganz sowohl auf das Marschieren als auch auf die Fahnen verzichtet. „Wer frühere Chorfeste miterlebt hat, wird je nach Standpunkt erfreut oder auch mit leiser Wehmut das sonst übliche bombastische Aufgebot an Fahnen und karnevalistisch anmutenden Sängerwagen vermisst haben“, hieß es dazu in der Sänger-Zeitschrift „Lied und Chor“. Mit dem Bild von um Standarten gescharten Sängern aber verbänden viele „den Gedanken an eine ungeliebte Vergangenheit“.

Apropos Vergangenheit: Beim ersten gesamtdeutschen Sängerfest 1992 in Köln zeigte sich deutlich, dass man in Ostdeutschland auf keine Chorfest-Tradition aufbauen konnte - gerade einmal 30 der 600 teilnehmenden Ensembles kamen aus den neuen Ländern.

Spätestens seit Köln wird auch zunehmend auf musikalische Qualität gesetzt, was der DCV durch den seit 2008 ins Chorfest integrierten Wettbewerb konsequent fortsetzt. Neu war dabei auch, dass man sich von den traditionellen Kategorien wie Männerchor, Kinder- oder Kirchenchor verabschiedete und stattdessen die Chöre anhand der gesungenen Literatur - Barock, Pop, Romantik und so weiter - sortierte. „Das mag mehr die Insider interessieren, für die jedoch ist es geradezu ein Paradigmenwechsel“, schrieb damals die „tageszeitung“.

Und auch mit der internationalen Öffnung bewegte sich der DCV auf einem spätestens seit der Wende eingeschlagenen Weg: Bereits 1992 in Köln waren Chöre aus elf Ländern vertreten, 2003 in Berlin wurde das Fest als „europäischer und weltoffener Treffpunkt“ angekündigt. In Zeiten der Globalisierung erscheinen rein nationale Chortreffen als ein Anachronismus.

Geändert hat sich der Blick der Öffentlichkeit auf die Chorveranstaltungen. Inzwischen sind auch ambitionierte Amateurchöre dank ihrer musikalischen Qualität in großen Konzertsälen statt Zelten oder Hinterzimmern angekommen. Sowohl die Anerkennung der eigenen Leistung durch Wettbewerbe als auch die Begegnungen mit internationalen Vokalensembles zählen zu den attraktivsten Argumenten, ein Chorfestival zu besuchen.

Auch in Stuttgart werden sich Chöre aus diversen europäischen Ländern unters singende Volk mischen. Auf dem Programm stehen Festkonzerte mit Spitzenchören, mehr als 120 Wettbewerbskonzerte mit den besten Laienchören des Landes, Singen in sozialen Einrichtungen und Gottesdiensten und nicht zuletzt Mitsingaktionen wie der größte Beatles-Chor Deutschlands auf dem Schlossplatz, gemeinsamer Opernchor-Gesang im Staatstheater oder Händels „Messias“ für alle. Insgesamt sind es mehr als 700 Veranstaltungen.

„Besser als bei einer solchen Gelegenheit können wir nicht zeigen, wie lebendig, spannend und vielfältig die Vokalszene ist“, sagt Moritz Puschke, Geschäftsführer des DCV und künstlerischer Leiter des Chorfestes. Wobei er ausdrücklich Vokalensembles mit kleinerer Besetzung und Vocal Bands aus dem Pop-Jazz-Bereich mit einbezieht. Auf diese Weise hat sich das Chorfest im Laufe der vergangenen Jahrzehnte endgültig von einer verbandsinternen Nabelschau zu einem öffentlichen Ereignis gewandelt.

Bei der in Stuttgart gebotenen Vielfalt der Angebote und der zu erwartenden musikalischen Qualität ist es kaum noch vorstellbar, dass noch vor nicht allzu langer Zeit der Höhepunkt eines jeden Chorfestes der feierliche Fahnenumzug war. Gut, dass man sich mittlerweile ganz aufs Singen konzentriert.

Der Autor ist Redakteur von „Chorzeit - das Vokalmagazin“.

Das Deutsche Chorfest 2016 findet vom 26. bis 29. Mai in Stuttgart statt.

www.chorfest.de