Elaine Rauhöft. Fotos: oh Quelle: Unbekannt

In zwei Tagen ist es soweit: Am 23. Juni stimmen die Briten darüber ab, ob sie in der Europäischen Union bleiben wollen oder ob sie für einen Brexit sind, also die EU verlassen wollen. Das Ergebnis gilt als völlig offen. Unter den Briten im Landkreis Esslingen, die wir nach ihrer Meinung zum Brexit gefragt haben, hingegen ist die Richtung klar. Sie sprechen sich eindeutig für einen Verbleib in der EU aus – aus unterschiedlichen Gründen.

Jaqueline Mackenzie hält die Debatte über den Brexit nicht gerade für förderlich, um eine informierte Entscheidung zu treffen. Denn diese sei geprägt von Verfälschungen, Einseitigkeit und Übertreibung. Dennoch sei sie klar gegen einen Brexit, sagt die 53-Jährige. Denn die Argumente dafür erscheinen der Betreiberin der Esslinger Gaststätte Waldheim Berkheim nicht schlüssig: Es sei völlig unklar, was passiere, wenn Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU sei. Zudem sieht Mackenzie viele Vorteile bei einem Verbleib in der EU, etwa den freien Handel, ein Mitspracherecht bei europäischen Regeln und Gesetzen, das Recht auf Wohnen, Lernen, Arbeiten und Ruhestand in der EU oder auch eine gemeinsame Kriminalitätsprävention und Verteidigungspolitik der Länder. Der Liebe wegen ist die Londonerin 1993 nach Deutschland gekommen – und fühlt sich inzwischen nicht nur als Britin, sondern als Europäerin.

Franziska Wieland kommt ursprünglich aus Leinfelden-Echterdingen. Doch seit etwa vier Jahren lebt sie zusammen mit ihrem Mann in London. „Wir sind ernsthaft besorgt, dass der Brexit kommt“, sagt die 33-jährige Ärztin. Denn sie könnten überhaupt nicht abschätzen, was das für sie bedeute. Bislang hätten sie beispielsweise überhaupt keine Probleme mit der Arbeitserlaubnis gehabt – keiner wisse, ob das so bleibe. Zudem arbeite ihr Mann bei einer Filmfirma und rekrutiere Personal aus ganz Europa: „Wer weiß, ob das dann nicht viel schwieriger wird?“, fragt Franziska Wieland. Sorgen macht dem Paar aus Leinfelden-Echterdingen auch die Tatsache, dass sie viel Geld in den Kauf einer Wohnung in London gesteckt haben und nun befürchten, dass in einer möglichen Rezession die Immobilienpreise dramatisch fallen. Doch vor allem wäre der Brexit für sie ein Verrat an den Idealen der Freiheit und des Friedens: „Wir haben beide europäische Ideale und sehen Europa als eine große Errungenschaft“, sagt Wieland. Doch darüber rede in England niemand. Es sei zu spüren, dass die Briten gern ihr eigenes Ding machen würden, sie fühlten sich oft gegängelt von der EU. Viele empfänden sich auch gar nicht als Teil Europas. Das zeige allein schon die Tatsache, dass sie und ihr Mann oftmals als Leute von „overseas“, also aus Übersee, bezeichnet würden. Offenbar hätten viele Angst, etwas zu verlieren, wenn sie in der EU bleiben – und sei es nur die britische Identität. Die letzten Tage vor der Abstimmung zum Brexit seien jedenfalls turbulent: „Das ist eine richtige heiße Diskussion hier, sagt Wieland. 

Alison Unrath ist klar gegen einen Brexit. Die Engländerin aus dem Großraum London lebt bereits seit 1969 in Deutschland und fühlt sich nicht nur als Engländerin, sondern auch als Europäerin. Sie mag zwar ihr Land und ihre Muttersprache – nicht zuletzt deshalb gründete sie vor mehr als 30 Jahren den Englisch-Stammtisch „Here we are“ in Esslingen. Doch die Entwicklungen in ihrer Heimat bereiten der 69-Jährigen Sorgen. So stehe im Hinblick auf die EU jetzt vor allem das Geld im Vordergrund. Es sei in den vergangenen Jahren immer wieder thematisiert worden, wie viel Großbritannien zahlen müsse, aber kaum, was die Europäische Union in das Land investiert habe. „Das wissen viele gar nicht“, sagt Unrath. Zudem sei völlig unklar, was bei einem Brexit passiere. Etwa in Bezug auf Renten: Die studierte Lehrerin hat zwar nur kurz in England gearbeitet und erhält deshalb nur eine kleine Rente von dort. Doch sie weiß, dass viele, die lange in Großbritannien berufstätig waren und nun im europäischen Ausland leben, um die bislang jährlich fällige Standarderhöhung ihrer Rente fürchten. Aus Sicht von Unrath haben unter anderem die Migrationsbewegungen der vergangenen Jahre und die aktuelle Flüchtlingskrise dazu beigetragen, dass mehr Menschen den Brexit befürworten. Doch die 69-Jährige glaubt keineswegs, dass ein Austritt die Probleme ihres Heimatlandes lösen könne. Vielmehr befürchtet sie mehr Arbeitslosigkeit und einen Einbruch der Wirtschaft. Zudem glaubt sie, dass mit einem Brexit langfristig die Bedeutung von Großbritannien schwinden könnte – auch weil vielleicht Schottland, Wales und Nordirland dann versuchten, unabhängig von England in die EU zu kommen: „Dann gibt‘s nur noch Little Britain“, sagt Alison Unrath.

Sally Turner bedauert, dass es bei der Diskussion um einen Brexit  immer nur ums Geld gehe, also um die Frage, ob sich ein Austritt aus der EU finanziell lohne oder nicht. „Aber ich finde, Europa sollte allein schon deshalb zusammen bleiben, um Kriege zu verhindern“, sagt die Engländerin, die als Musiklehrerin in Ostfildern arbeitet. „In der heutigen globalisierten Welt muss man doch zusammenhalten“, findet sie. Sally Turner ist bereits im Jahr 1970 nach Esslingen gekommen und hat etwa 20 Jahre hier gelebt, inzwischen wohnt sie in Stuttgart. Für sich persönlich befürchtet sie keine Veränderungen durch einen Brexit, „aber ich fände es einfach schade“, sagt sie. Sie habe oft den Eindruck, viele ihrer Landsleute wollten sich nichts von jemand anderem diktieren lassen und seien deshalb für einen Brexit. „Aber irgendjemand bestimmt doch immer“, sagt Sally Turner. Sie nimmt die Diskussion in England als höchst emotional wahr: „Es weiß ja keiner, was passiert, wenn Großbritannien die Europäische Union verlässt“, sagt sie. 

Elaine Rauhöft geht von gravierenden Auswirkungen auf ihr Leben aus, sollte es zu einem Brexit kommen. Denn die 58-Jährige, die an der Volkshochschule unterrichtet und Mitglied in der Deutsch-Britischen Gesellschaft Filderstadt ist,  ist auch Stadträtin in ihrem Wohnort Waldenbuch. „Das darf ich nur sein, weil ich EU-Bürgerin bin“, sagt sie. Jüngst hat sie deshalb die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, sie rechnet in diesen Tagen mit ihrem neuen Pass. Seit sie 1981 nach Deutschland gekommen war, hatte Rauhöft diesen Schritt nie für notwendig erachtet – doch nun will sie vorbereitet sein. Unabhängig davon ist Rauhöft eine klare Gegnerin des Brexit: „Ich sehe keinen Grund für einen Austritt aus der EU“, sagt sie. Der Zusammenschluss sei doch ein Garant für den Frieden: „Wenn alle Freunde sind, gibt es mehr Sicherheit“, glaubt die 58-Jährige. Zudem geht sie davon aus, dass die Wirtschaft Großbritanniens unter einem Brexit leiden würde, vor allem der Finanzsektor. Elaine Rauhöft würde gerne zur Wahl gehen und gegen den Brexit stimmen, aber wer mehr als 15 Jahre im Ausland lebe, dürfe in Großbritannien nicht mehr wählen, erzählt sie. Eine Gruppe Landsleute habe eine Petition angestrengt, in der zahlreiche Briten im europäischen Ausland ein Wahlrecht beim Thema Brexit forderten, doch diese sei abgelehnt worden. Nun seien sie und ihre Landsleute extrem gespannt, was bei der Wahl am 23. Juni herauskomme. Um nicht allein zu sein, wenn die Nerven blank liegen, trifft sie sich am Wahltag mit Freunden, um die Hochrechnungen zu verfolgen – quasi ein Public Viewing parallel zur Fußball-EM.