So präsentiert sich die Sängerin auf dem Cover ihres Albums Anima, wo sie erstmals im Liedermacherstil eigene Songs veröffentlich hat, die keine Kinderlieder sind. Foto: oh/F.Bayh & S.Ochs photographie

Julia Miller-Lissner aus Esslingen machte im Internet Musik für 200 Familien. Am Ende hörten weit über 30 000 Menschen zu.

Esslingen - Singen, tanzen, Schauspielunterricht. Mit Kindern arbeiten! Das alles ist Nähe. Und nun? Julia Miller-Lissner sah schwere Zeiten auf sich zukommen. Die Esslingerin, die es nicht aushält, nur ein oder zwei Projekte gleichzeitig zu verfolgen, sondern immer mehr will und dabei sprüht, sprüht, sprüht – mit einem Mal war sie kalt gestellt.

Deutschland im März 2020. Jemand hatte den Ausschalter gedrückt. Global. Nichts mehr. Alles dunkel. Off.

Die Sängerin und Schauspiellehrerinsuchte den Resetknopf. Bing. Der Computer fuhr hoch.

„Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit. 13. März 2020. Deutschland. Bestätigte Fälle: 3062. Verstorbene: 2.“ Sehr wenig angesichts dessen, was dann in den folgenden Wochen noch kommen sollte. Aber Julia Miller-Lissners Frühwarnsystem sprang an. On.

Denn am 13. März war der Tag, an dem in fast allen Bundesländern die Schulen und Kitas dicht machten. An diesem Tag schickte sie eine Nachricht in die Welt.

Facebook. Instagram. You Tube. Julia Miller-Lissners Finger fliegen über die Tasten. „Wir trotzen Corona und singen online!“ (Mehrere Emojis.) „You Tube-Musikstunden für alle Eltern und ihre Kinder von 0-5 Jahren! Teilen bitte!“ (Mehrere Emojis.) Ein Experte für Soziale Netzwerke hätte an dieser Stelle vielleicht eingehakt. Dieses „teilen bitte“ könnte in der typischen Social-Media-Community – also den Vielnutzern der sozialen Netzwerke – abschreckend wirken. Aber Julia Miller-Lissner interessierte sich nicht für Klicks und Likes. Sie wollte nur ihre Musik weitergeben, selbst wenn die Lage irgendwie aussichtslos aussah. „Jetzt, wo Eltern mit ihren Kindern fast in ganz Deutschland zuhause bleiben müssen, weil die Kitas geschlossen sind, werden auch alle anderen Kurse ausfallen, und die Tage zuhause werden doch etwas lang und anstrengend... Auch meine Musikschule muss schließen. Und damit sind es 200 Familien, die auch auf die musikalischen Stunden verzichten müssen,“ schreibt sie. „Da ich aber keine Lust habe, meine Schüler im Stich zu lassen, werde ich meine Musikgruppen täglich online, auf YouTube bespaßen. Aber: Ich werde die Videos für alle öffentlich machen.“ Was die Gesangslehrerin damit sagen wollte: Ihre Angebot war kostenfrei.

Sie drückte die Entertaste. Das Angebot war in der Welt. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten – und war ziemlich überraschend. 384 Likes, 171 durchweg positive Kommentare, 355 Mal wurde ihr Post geteilt. Und das war nur der Anfang.

Was folgte, war Arbeit. Eine Singstunde reihte sich an die andere. Der Empfehlung, ihren Kanal zu abonnieren, folgten immer mehr Familien – weltweit.

Es ging dabei nicht um Geld, sondern um Teilhabe – der Gewinn, den Julia Miller-Lissner einstrich, war ideeller Art. Eine Woche später schrieb sie ihren Fans: „Meine Lieben, nach fünf Tagen und sechs Live-Musikstunden mit euch bin ich sehr erleichtert, sehr überwältigt und sehr glücklich. Letzten Montag habe ich mir wirklich noch Sorgen gemacht, ob die Technik funktioniert, und ob das Konzept online Singen mit Kindern überhaupt realistisch ist... Vier Tage später habe ich mit über 15 000 Familien zusammen gesungen... (zwei Emojis). Und alle Schüler sind noch da.“ (Vier Danke-Emojis.)

Mittlerweile hat ihr Kinderlieder-Kanal mehr als 27 000 Abonnenten – und mit Vater, Mutter und Kinder kommen auf jeden Abonnenten mehrere Zuhörer. Rund zwanzig Videos lud Julia Miller-Lissner in den ersten vier Wochen hoch. Das Projekt lief auch noch über die Pfingstferien, wo die Sängerin weitere sechs Videos anbot.

Damit wurde die Corona-Ausgangssperre für Julia Miller-Lissner eine enorm arbeitsreiche Zeit. Was ihr heute, ohne dass es je so geplant war, dabei hilft, sich wirtschaftlich über Wasser zu halten. Denn nach dem Online-Singen war vor dem Online-Singen – nun aber als reguläre Musikschule. Anfang Mai kündigte sie Musikstunden für Kinder gegen Gebühr an, inzwischen kann sie sagen: „Meine Ausfälle durch Corona bekomme ich so gedeckt.“ Weil ihre Bekanntheit stieg, bekam sie außerdem Angebote, mit denen sie vor Corona nicht rechnen konnte. Die Künstlerin, die inzwischen auch eine CD mit Liedern für Erwachsene aufgenommen hat, denkt mittlerweile über eine Tournee nach.