Die Blamage der DFB-Elf ist ein weitere Tiefpunkt in einer unheilvollen Entwicklung. Die Verantwortlichen müssen Konsequenzen ziehen – auch persönliche, meint Carsten Muth.
Raus. Aus. Vorbei. Es ist nicht zu fassen. An einem feuchtwarmen Abend in der Wüste Katars hat der deutsche Fußball eine seiner schwärzesten Stunden erlebt. Das Scheitern nach der Vorrunde bei der WM am Persischen Golf markiert einen weiteren Tiefpunkt in der Geschichte der Nationalmannschaft. Erst die Schmach bei der Weltmeisterschaft in Russland, dann der frühe K.-o. bei der EM im vergangenen Jahr – und nun das. Der Schock sitzt tief, bei Spielern und Fans. Wobei viele Zuschauer die Pleite von Katar womöglich mit einem Achselzucken quittieren. Nach dem Motto: Deutschland ist raus? Was juckt es mich.
Die deutschen Spieler spüren den Argwohn
Die Fußball-Nationalmannschaft war mal das Lieblingskind der Deutschen. Es gab 80 Millionen Bundestrainer und Bundestrainerinnen, jeder und jede hatte eine Meinung. Das ist vorbei. Vor allem deshalb, weil sich die Eliteauswahl von ihrer Basis entfernt hat. Ein Prozess, der nach der EM 2016 einsetzte und bis heute andauert, auch wenn der Deutsche Fußball-Bund sich bemüht hat, gegenzusteuern. Das Interesse an der Mannschaft? Nahm von Jahr zu Jahr ab. Die Unterstützung ebenfalls, was sich an Einschaltquoten und Auslastung der Stadien ganz gut ablesen lässt. Den Spielern ist all das nicht entgangen. Sie haben den Argwohn gespürt, die Vorbehalte, ja die Abneigung vieler Menschen ihnen und der Nationalelf gegenüber. Während der WM-Endrunden 2006, 2010, 2014 war das noch ganz anders. Da wurden die Kicker getragen von einer Welle der Sympathie, der Zuneigung, des Wohlwollens.
Sinnlose Marketing-Floskeln des DFB
Die Entfremdung hat viel mit einer neuen strategischen Ausrichtung zu tun, die schon nach dem WM-Triumph 2014 in Brasilien einsetzte. Sie hat überdies eine Menge mit der Person Oliver Bierhoff zu tun. Unter dem smart daherkommenden DFB-Sportdirektor hat der Marketingsprech Einzug gehalten in den Nationalteam-Kosmos. Die Nationalelf hieß nun plötzlich „Die Mannschaft“. Hinzu kamen halb gare und gewollt zeitgeistige Slogans in Zusammenarbeit mit dem damaligen Hauptsponsor Mercedes wie „#BestNeverRest“ (Die Besten lassen nie nach) oder „#ZSMMN“ (zusammen). Der Fan war jetzt nicht mehr Fan, sondern Kunde, der ein Unterhaltungsprodukt kaufen sollte. Die Fanklubs der Nationalmannschaft waren „powered by Coca-Cola“, entkoppelt von der interaktiven Fankultur, die es in den meisten Bundesliga-Klubs gibt.
Oliver Bierhoff sollte gehen
Spätestens 2018 vor der WM in Russland war die Stimmung im Keller, auch weil die DFB-Spitze um Oliver Bierhoff die Debatte über Mesut Özil und Ilkay Gündogan und ihren umstrittenen Besuch beim türkischen Präsidenten Recep Erdoğan kurz vor dem Turnier ungeschickt moderierte. Der Wirbel störte die Konzentration aufs Sportliche, die Vorbereitung auf das erste Spiel, das dann prompt in die Hose ging. Wie nun auch in Katar. Diesmal bekamen der DFB, sein Präsident Bernd Neuendorf und Sportdirektor Oliver Bierhoff den Streit um die One-Love-Binde nicht eingefangen. Bierhoff, der nach der WM 2018 zu lange an Bundestrainer Joachim Löw festgehalten und damit einen Neustart verhindert hatte, steht wie kein anderer Verantwortungsträger für die Pannen- und Pleitenserie der vergangenen Jahre. Ergo sollte er seinen Hut nehmen, Platz für einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin machen, der oder die den festgefahrenen Tanker wieder flottmacht.
Die Heim-EM findet bereits in 18 Monaten statt. Ob bis dahin das verkaufte „Wir-Gefühl“ wieder erzeugt, die Einheit zwischen Team und Fans wiederhergestellt, das Vertrauen zurückgewonnen werden kann, bleibt offen. Dem deutschen Fußball stehen nicht nur ungewisse Tage bevor, sondern Jahre.