Verrückte Traumwelt: Victoria Kunze als Alice (Mitte) und der Projektchor mit Taxiarchoula Kanati als Raupe (hinten). Foto: Christoph Kalscheuer Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Sie spielen lustige grüne Zwerge mit Regenschirmen, tragen charmant grinsend das Pausenschild über die Bühne, marschieren martialisch auf Farbtöpfen hämmernd in Reih und Glied durch den Raum, kommentieren singend das Geschehen und liegen auch mal als Müllbeutel verkleidet am Rande der Bühne herum: In „Alice im Wunderland“, der neuesten Produktion der Jungen Oper Stuttgart im Kammertheater, sind die Stars nicht die Profis, sondern der große Projektchor aus 25 Kindern und Jugendlichen. Sie singen und bewegen sich präzise und legen professionelle Konzentration an den Tag. Regisseurin Barbara Tacchini, Chorleiterin Viktoria Vitrenko und Choreograph Ricardo Camillo haben hier ganze Arbeit geleistet. Der 1865 erschienene Kinderbuch-Klassiker von Lewis Carroll wird im Kammertheater in der vor einem Jahr uraufgeführten Vertonung des Hamburger Komponisten Johannes Harneit auf ein Libretto von Lis Arends gezeigt - für Erwachsene und Kinder ab zehn Jahren.

„Alice im Wunderland“ wurde unzählige Male für die Bühne und den Film bearbeitet. Carrolls skurrile Figuren - wie die Grinsekatze, Jabberwocky, das Kaninchen mit Uhr oder der verrückte Hutmacher - sind Weltliteratur. Und Alices Erkundung einer verrückten Traumwelt voller Absurditäten und Paradoxien verzückte nicht nur Generationen von Kindern, sondern auch drogengestählte Heroen der Popkultur.

Kaum verständlich und erkenntlich

Aber selbst wenn einem dieser Stoff geläufig ist, fällt es schwer, der Aufführung zu folgen. Das liegt zunächst an der Entscheidung, auf Übertitel zu verzichten. Zwar wird auf Deutsch gesungen, und weil das Orchester klein besetzt ist mit Streichquartett, Schlagwerk, Klavier und ein paar Bläsern, ist die Voraussetzung zum Textverständnis eigentlich gegeben. Trotzdem bleibt das, was gesungen wird, über weite Strecken unverständlich.

Offenbar wurden auch erklärende Überleitungen aus der Partitur gestrichen. Man spielt eine „Stuttgarter Fassung“. Und in Sachen Kostüme hat die fantasievolle Vesna Hiltmann, die auch das Bühnenbild schuf, zwar liebevolle Detailarbeit geleistet. Aber die eigentlich bekannten Figuren bleiben unkenntlich: etwa die Maus (Maja Majcen Nadu), die eine unendlich lange Papierschlange aus Zeitungsseiten hinter sich herzieht. Oder die Raupe, die eine bizarre Drahtskulptur auf dem Kopf trägt und in ein grünes Abendkleid gekleidet ist, unter dessen Stoff die Arme der Sängerin Taxiarchoula Kanati verschwinden. Auch wen oder was Pascal Zurek als schreiendes Wesen im tarnfleckigen Strampelanzug im Rollstuhl und aus einem übergestülpten Pappschornstein Dampf ablassend darstellen soll, um dann von einem Koch mit Blutschürze in ein qualmendes Feuerloch geschoben zu werden, bleibt unklar.

Barbara Tacchini versuchte erst gar nicht, die traumlogische Wirrnis der Geschichte, in der es um die Selbstfindung eines pubertierenden Mädchens geht, konkreter zu machen. Im Gegenteil. Sie verwirrt noch mehr. Wichtiger schienen ihr offenbar die szenisch-räumlichen Effekte, weshalb die Aufführung der 100 Minuten langen Oper wegen aufwendiger Umbauten und entsprechend langer Pausen eine Stunde länger dauert. Harneits Musik und den Stimmungen des Stücks tut das gar nicht gut.

Spektakuläre Raum-Effekte

Die räumliche Weitung ist freilich spektakulär. Der erste Akt spielt noch vor einer Wand. Alice, die Victoria Kunze (fast als einzige durchweg deutlich artikulierend) als gelangweiltes Mädchen spielt, fläzt sich dort mitten in ihrem Spielzeug hin und führt Selbstgespräche, wirft bedrohliche Schatten an die Wand, köpft ihre Puppe, derweil Fetzen der eigentlich am Stück komponierten Ouvertüre hinter der Wand hervortönen und immer wieder ein hysterisch herumhüpfendes Kaninchen (Philipp Nicklaus) für Aufmerksamkeit sorgt. Akt zwei weitet den Blick aufs Orchester und ein riesiges dampfendes Loch im Bühnenboden. Das finale Bild zeigt das Kammertheater komplett umgestaltet. Das eintretende Publikum muss sich neue Plätze suchen, da in den Zuschauerreihen nun das Orchester und Herzkönig und -königin thronen. Auf der langen Rampe, die den Saal nun quert, wird sich die obskure Gerichtsverhandlung abspielen, für die sich noch einmal die ganze merkwürdige Personage aus sprechenden Tieren und Spielkarten-Menschen versammelt (mit komischem Talent, opulenter Stimme und Bühnenpräsenz: Adam Kim als Hutmacher). Die Herzkönigin (Alice Chinaglia) will nun Köpfe rollen sehen. Flankiert vom Kinderchor, der mit roter Farbe Wände und Holzrosen bemalt, wird die Szene immer chaotischer, bis Alice schließlich an Seilen gen Himmel entschwindet: War alles nur ein Traum. Besonders dieser letzte Akt macht deutlich, dass Tacchinis ausgreifende visuelle Ambitionen mit der Musik nicht in Einklang zu bringen sind. Harneit schrieb eine Kammeroper, in der die menschlichen Stimmen - changierend zwischen Sprech- und Operngesang, einfachen Kinderliedern und Musical - im Vordergrund stehen, während das 13-köpfige Orchester begleitende und kommentierende Funktion hat, wobei virtuos die Stile gemischt werden bis hin zu avantgardistischem Saitenschlagen und sehr Konkretem wie Klospülungswürgen. Doch im szenisch immens geweiteten Raum geht die klanglich fein gestaltete Partitur unter, und Dirigent Stefan Schreiber hat große Mühe, die in allen Ecken agierenden Darsteller irgendwie klanglich zusammenzubringen.

Die nächsten Vorstellungen: heute, morgen, 8., 10., 13., 15., 18., 19., 21., 23., 25., 27. und 29. Juni sowie 1. Juli im Stuttgarter Kammertheater.