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Sie ist die erfolgreichste Grenzgängerin zwischen Europa und dem Fernen Osten. Der Raum zwischen den Kulturen wird bei Yoko Tawada zum sinnlichen Erlebnis. Ins Stuttgarter Literaturhaus kommt die japanische Autorin zu einer Lesung.

StuttgartDie Milch macht’s. Yoko Tawadas Bemerkung über die in Südostasien weit verbreitete Laktoseintoleranz gehört zu den am häufigsten zitierten Sätzen der deutsch-japanischen Autorin: „Europa ist, wenn alle Milch trinken, ohne zu erbrechen.“ Nach dreieinhalb Jahrzehnten in Deutschland hat sich Tawada offenbar weitgehend in das hiesige Ernährungssystem eingegliedert. „Käse und Joghurt vertrage ich sehr gut, nur bei Frischmilch habe ich noch Probleme.“ Dass sie auf der schattenkühlen Marbacher Hotelterrasse Mineralwasser bestellt, hat dagegen einen anderen Grund. Sie liebt das Wort: „Mineralwasser, Mineralwasser, Mineralwasser!“ Dreimal wiederholt sie es. Als sie anfing Deutsch zu lernen, habe sie sich die schwierige Vokabel sofort merken können. „Es klang so erfrischend für mich, wie flüssiges Kristall, das aus dem Gestein sprudelt, ganz anders als der japanische Begriff für Wasser.“

Tawada, Ende 50 und gertenschlank wie ein Teenager, ist die erfolgreichste literarische Grenzgängerin zwischen Europas Mitte und dem fernen Osten. Ihr feines Sensorium entdeckt in der deutschen Sprache Schönheiten und Skurrilitäten, die wahrscheinlich noch kein Muttersprachler jemals gesehen hat. Tawadas Romane, Gedichte und Essays befreien den interkulturellen Diskurs aus seinem engen akademischen Korsett und verlagern ihn auf die Ebene des Physisch-Sinnlichen. Sprachreflexion geht einher mit Beobachtungen zu Essen und Trinken.

Momentan tourt die poetische Ethnolinguistin auf Lesereise durch den deutschen Südwesten. Mit der Region verbindet die Wahlberlinerin eine besondere Beziehung, schließlich erscheint ihr Werk seit geraumer Zeit im Tübinger Konkursbuch Verlag. An Baden-Württemberg gefallen ihr das Traditionsbewusstsein und die Bodenständigkeit. In der Hauptstadt störe sie manchmal das flatterhafte Kommen und Gehen. „Ich habe den Eindruck, dass kein Berliner in Berlin geboren ist.“

Geschmack der Worte

Von einer Gesprächspartnerin wie Tawada kann man als Journalist sonst nur träumen: Witzig, klug und druckreif sprudeln die Sätze aus ihr heraus. Manches Wort lässt sie sich auf der Zunge zergehen, als wolle sie seinen Geschmack, seine Bissfestigkeit prüfen. „Baumkuchen“ zum Beispiel, so ihre Theorie, sei deshalb eine in Japan sehr geschätzte Süßigkeit, weil darin der von ihren Landsleuten ungeliebte Vokal „i“ nicht vorkomme, anders als etwa in „Marzipan“. Oder in „Lakritze“. Aber die schmecke ohnehin wie Autoreifen.

1982 kam die Tochter eines Buchhändlers nach Deutschland, um zu bleiben. „Wegen Franz Kafka und wegen 24 Buchstaben.“ Denn im Unterschied zu den über 3000 Ideogrammen des Japanischen beruht unser lateinisches Alphabet auf lautlichen Prinzipien. Das lasse vor allem die Schriftsprache viel lebendiger erscheinen: „Wenn ich etwas Deutsches lese“, sagt Tawada, „ist es, als würde in meinem Kopf geredet.“ Doch damit, deutsch zu lesen, begnügt sich die gebürtige Tokioterin nicht mehr. Von ihren 50 Büchern hat sie mittlerweile 20 auf Deutsch geschrieben. 2016 etwa den Prosaband „Akzentfrei“, der Einblick in ihre bilinguale Denkwerkstatt gibt. Tawadas Texte offenbaren, wie absurd das uns Vertraute dem Fremden vorkommen muss. Etwa die Unterscheidung von Singular und Plural: „Warum nimmt man den Unterschied zwischen einem Apfel und zwei Äpfeln so ernst, dass man sogar die Form des Apfels ändern muss, während der Unterschied zwischen zwei und drei Äpfeln egal ist.“

Sich zu wundern ist für sie zur Lebenshaltung geworden. „Wenn Sie irgendwo fremd sind, fällt es Ihnen, leichter, zu staunen.“ Als Tourist merke das jeder im Urlaub. Als Japanerin in Deutschland besitzt Tawada indes das Privileg, tagtäglich staunen zu dürfen. „Heute bei der Ankunft fand ich es seltsam, dass sich das Deutsche Literaturarchiv, das man bis nach Amerika kennt, in einer Kleinstadt wie Marbach befindet.“

Tawada schreibt auch über Genderthemen, Politik und Umwelt, doch Publikum und Medien reduzieren sie meist auf Fragen der Migration und des Kulturkontakts. Sie selbst stört das nicht weiter: „Ich kann gut verstehen, dass das die Leute am meisten interessiert.“ Aktuelle Entwicklungen rund um Asyldebatte und AfD machen auch ihr Sorgen. „Als ich nach Deutschland kam, waren vor allem Türken Opfer xenophober Angriffe. Später dachte ich, die Ausländerfeindlichkeit nimmt ab, aber jetzt flammt der Hass der Achtziger wieder auf.“ Tawadas Vermutung: „Europa hat mit seinen Erasmus-Programmen nur die Akademiker mitgenommen, aber Handwerker und einfache Angestellte vergessen. Menschen ohne Auslandserfahrung und Fremdsprachenkompetenz empfinden das Fremde leichter als Bedrohung. Über die sozialen Netzwerke verbreiten sich diese Ängste viel stärker als früher.“

Der Hass flammt wieder auf

Noch düsterer scheint die Zukunft, die sich Tawada für ihre ehemalige Heimat ausmalt. Der Roman „Sendbo-o-te“ erzählt von einem dystopischen Japan, in dem die Kinder an rätselhaften Krankheiten leiden und die Alten nicht sterben. Der Auslöser war die Reaktorkatastrophe von Fukushima. „Der Roman“, sagt die Autorin, „ist aber auch eine Allegorie der japanischen Gesellschaft, die noch schneller überaltert als die deutsche.“ Während immer mehr 80-Jährige körperlich topfit seien, würden die Kinder tatsächlich von Jahr zu Jahr gebrechlicher: „Weil keiner mehr draußen spielt und alle nur noch vor dem Computer sitzen.“

„Sendbo-o-te“ gehört zu Yoko Tawadas auf Japanisch verfassten Werken, die erst später ins Deutsche übersetzt wurden. In welcher Sprache sie ein Buch schreibe, stehe normalerweise schon bei der ersten Idee fest. Die Kriterien, von denen die Entscheidung abhängt, bleiben ihr dabei oft selbst ein Rätsel. Yoko Tawada akzeptiert einfach, was die zwei Sprachseelen in ihrer Brust miteinander ausmachen.

Am Montag, 8. Juli, 19.30 Uhr, liest Yoko Tawada im Stuttgarter Literaturhaus.