Kurator Wolfgang Krauth (links) und Professor Peter Rückert, Leiter des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, in ihrem Kinosaal, in dem nun historische Filme aus Stuttgart laufen. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Reels für Instagram waren unbekannt, Videos bei Youtube ebenso: Und doch sind seit den 20ern Filme im Südwesten entstanden, die das Hauptstaatsarchiv nun digital aufbereitet. Erstmals sind diese Schätze öffentlich zu sehen – Highlights für Freunde der Stadtgeschichte!

König Wilhelm II, der 1918 abdanken und seinen Wohnsitz im heutigen Stadtpalais räumen musste, spaziert durch die Anlagen des Klosters Bebenhausen. Ein leicht verwackelte Film führt dies über hundert Jahre später vor. Um 1948 hat ein Kameramann oder eine Kamerafrau die Ruine des im Krieg zerstörten Stuttgarter Rathauses festgehalten. Ein weiterer Film zeigt das Richtfest des neuen Rathauses im Jahr 1956, das Paul Stohrer, der Architekt des Wirtschaftswunders, geplant hat. Sportfans werden sich über die inzwischen farbigen Sequenzen freuen, die aus dem Neckarstadion 1974 bei der Fußball-WM stammen.

Dies alles kann im Hauptstaatsarchiv Stuttgart an der Konrad-Adenauer-Straße, gleich neben dem Stadtpalais, also am Beginn der Kulturmeile, bewundert werden. Die audiovisuelle Ausstellung „Film goes born digital“, die am Donnerstag, 20. April, eröffnet worden ist, präsentiert fürwahr Archivschätze. Bisher konnten diese, weil anlog, nicht öffentlich gezeigt werden.

Historische Filme werden in Kinoatmosphäre gezeigt

Die digitale Umwandlung ist aufwendig. Sie schreitet aber soweit voran, dass eine Auswahl an historischen Dokumenten mit oft überraschenden Einblicken nun in Kinoatmosphäre bei freiem Eintritt rund um die Uhr werktags von 8.30 Uhr bis 17 Uhr läuft (donnerstags bis 19 Uhr, freitags ist bereits um 16 Uhr Schluss). Darüber wird sich ein an Stadtgeschichte interessiertes Publikum freuen, dass nicht nur Wissenschaftler und Historiker dies zu sehen bekommen.

Für die Vergangenheit, dies zeigt sich beim Geschichtsprojekt „Stuttgart-Album“ unserer Zeitung, interessieren sich zunehmend junge Menschen, die sehen wollen, wie sich ihre Stadt entwickelt und wie sie früher ausgesehen hat. Die Fans der Stadtgeschichte haben nun ein neues Ziel, das hinter Baustellen und Brettern noch etwas versteckt ist. Es lohnt sich aber, diesen Ort zu finden.

Zum Start der Ausstellung ist das neu gestaltete Foyer des Hauptstaatsarchivs fertig geworden. Hier kann man es sich in Stühlen, die nach den Landesfarben gelb und schwarz gestaltet sind, bequem machen, dabei Tageszeitungen oder Fachzeitschriften lesen oder auf dem Multitouch-Medientisch schon mal spielerisch schauen, was das Archiv dieses Hauses zu bieten hat.

In den audiovisuellen Beständen sind Tausende von Ton- und Filmaufnahmen vorhanden, die das Leben im Südwesten seit den 20er Jahren dokumentieren. In dem als Kinosaal gestalteten Erdgeschossraum an der Konrad-Adenauer-Straße 4 sind Tonbandgeräte, Kassettenrekorder und Filmprojekte ausgestellt – all das, was die Instagram-Generation verblüffen dürfte, aber ihre Eltern oder Großeltern bestimmt noch kennen. Weil die analogen Schätze für die heutige Zeit umgewandelt werden, werden die alten Filme also quasi digital neu geboren. Dies führt zu dem Ausstellungstitel „Film goes born digital“.

Gewürdigt wird in einem der Filme der 1909 in Stuttgart geborene Rathaus-Architekt Paul Stohrer, der 1975 im Alter von 65 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist. Außer dem Stuttgarter Rathaus hat er etwa das Kammertheater an der Kulturmeile, das inzwischen abgerissene Haus von Radio Barth, das Iduna-Hochhaus am Hauptbahnhof sowie das Domizil der Handwerkskammer gebaut. Auch als Person fiel der Architekt des Wirtschaftswunders auf: Stohrer fuhr einen Mercedes-Flügeltürer 300 SL, trug schnieke Anzüge, kam aber zu Vorlesungen an der Staatsbauschule, wo er von 1959 bis 1972 Professor war, auch mal im Tennisdress.

Die Ausstellung geht bis zum 8. September

Der 4. Mai 1956 war ein besonderer Tag für ihn: 800 Menschen versammelten sich im Gustav-Siegle-Haus, darunter Bundespräsident Theodor Heuss, um nach etlichen Reden gemeinsam auf den Marktplatz zu marschieren. Dort wurde das neue Rathaus nach den Plänen von Stohrer und Hans Peter Schmohl eröffnet. Die beiden wollten „ein Bekenntnis zum neuen Bauen“ ablegen. Auch auf Wunsch von OB Arnulf Klett sollte Vergangenes nicht nachgeahmt werden, um keine Übereinstimmungen mit dem Nazireich in der neuen Zeit zu schaffen. So entstand der Marktplatzflügel schnörkellos. Der rückwärtige Teil wurde instand gesetzt und aufgestockt.

Paul Stohrer hat die Stuttgarter Baugeschichte nach dem Krieg entscheidend mitgeprägt. Noch mehr Menschen, die diese Stadt entscheidend beeinflusst haben, findet man in der Ausstellung des Hauptstaatsarchivs, die bis zum 8. September geht.