Fachwerk, wohin man schaut am Marktplatz. Quelle: Unbekannt

Blick auf den Marktplatz: Fachwerk im Übermaß. Seit gut 30 Jahren steht die Altstadt unter Denkmalschutz.

Von Hermann Neu

Barcelona zu rummelig, zu viele Handtaschenräuber, und die Einheimischen haben von den vielen Touristen die Nase voll. New York zu teuer - und dann auch noch Donald Trump! Kein Problem, es gibt sie noch, die beschaulichen Alternativen zum Lauten und Grellen. Ein Tag in Herrenberg beispielsweise, im Schwabenland am Südrand des Schönbuchs. Rummelig ist hier rein gar nichts. Und an einem Mittwochnachmittag in den Sommerferien, bei erwähnenswert hoher Luftfeuchtigkeit und Temperatur kommen nicht nur die Einheimischen zum Schluss: Nicht viel los heute.

Das hat zweifellos seine positiven Seiten: Kein Andrang an den Sehenswürdigkeiten, keine Gefahr, von Horden wackeliger E-Bike-Radler in vorgerücktem Alter umgemäht zu werden. Und jede Menge freie Plätze in den Straßencafés auch für den Touristen, ohne dass die Menschenwürde der Eingeborenen leidet, weil sie an den Rand gedrängt werden. Als Pause oder entspannender Abschluss des Ein-Tage-Trips lockt zudem das weithin einmalige Naturfreibad, das in diesem Jahr auch keine Schwierigkeiten mit der Wasserqualität hat.

Vor die Entspannung aber darf sich ruhig etwas Kultur drängen. Der Jerg-Ratgeb-Skulpturenpfad beispielsweise führt vom Bahnhof durch die Stadt und hinauf auf den Schlossberg entlang von 25 Kunstwerken. Der Pfad erinnert an den 1480 geborenen Maler und Bauernkrieg-Aktivisten Ratgeb. In Pforzheim wurde er 1526 nach der Niederschlagung des Aufstands wegen Hochverrats grausam hingerichtet - zerrissen von vier Pferden. Ratgeb hat um 1520 den Herrenberger Altar geschaffen. Das bedeutende Kunstwerk allerdings ist in der Stadt nur noch als Kopie zu besichtigen - das Original ist in der Sammlung der Stuttgarter Staatsgalerie. Preziosen verschiedener heutiger Künstler dagegen finden sich am Pfad. Unter anderem die leicht schräge Darstellung „Köche und ein Mops“ am Bronntor. Sie stammt von dem im Südbadischen für kecke Provokationen bekannten Peter Lenk

Am Ende des Skulpturenpfads, das soll nicht verschwiegen werden, lockt statt Kultur eher Profanes: Inzwischen bietet der Schlosskeller auch wieder Essen und Trinken und nicht bloß den unvergleichlichen Blick von der Schwäbischen Alb bis zu den östlichen Schwarzwald-Ausläufern.

Doch bevor es soweit ist, gibt es in der von den Tübinger Pfalzgrafen Anfang des 13. Jahrhunderts gegründeten Stadt entlang und abseits des Skulpturenpfads viel zu erkunden. Pittoreske Ecken, liebevoll gepflegte Vorgärtchen und bunte Blumentopf-Arrangements kontrastieren mit manchmal nicht weniger malerischen Zeugen des Verfalls in Form bröckelnder Fassaden oder verblichener Werbeaufschriften aus längst vergangenen Jahrzehnten.

Das Herrenberger Juwel ist zweifellos die Stiftskirche, wegen ihrer etwas gedrungenen und geduckten Form „Glucke vom Gäu“ genannt. Die Rosette ist als die älteste Schwabens eine Rarität, das Chorgestühl von 1517 mit seinen 98 geschnitzten Bildern und zahlreichen Figuren ebenso. Die Kirche entstand in zwei Bauabschnitten bis 1293 und bis 1328. Im Turm der Stiftskirche ist das in seiner Art europaweit einmalige Glockenmuseum. Auch rund um die Kirche bis hinauf zum Dekanat sind im Freien Glocken und Klöppel ausgestellt.

Wenige Höhenmeter unterhalb der Stiftskirche ist natürlich der Herrenberger Marktplatz samt dem Marktbrunnen der Anziehungspunkt der Stadt. An den verschiedenen Fachwerkhäusern rund um den Platz kann man auf dem Weg herunter von der Stiftskirche von oben studieren, was sich im Lauf der Jahrhunderte so alles an Bausubstanz gesenkt und aus dem Waag- und Lotrechten herausbewegt hat. In der Tübinger Straße sieht es nicht viel anders aus. Was gerade steht und eine gleichmäßige Dachform hat, ist quer durch das Stadtgebiet neueren Datums.

Seit mehr als 30 Jahren steht die Herrenberger Altstadt schon unter Denkmalschutz. In einer vergleichbar großen - oder kleinen - Stadt findet sich kaum ein ähnlich gut erhaltenes Ensemble an Fachwerkbauten. Selbstverständlich, dass die 32 000-Einwohner-Stadt Station der Deutschen Fachwerkstraße ist. Ein spezieller Fachwerkpfad führt an 23 besonderen Bauten vorbei. Schautafeln und per Smartphone abrufbare Informationen erklären beispielsweise, dass ein Fachwerkhaus in früheren Jahrhunderten nicht für alle Zeiten an Ort und Stelle bleiben musste: In seine hölzernen Einzelteile zerlegt, konnte das Haus mit beherrschbarem Aufwand woanders wieder aufgebaut werden - ausgemauert waren die Fächer dann mit den üblichen einfachen Werkstoffen Stroh, Lehm und Steinen dann schnell wieder. Dass beim Umzug des Balkenskeletts oft nicht alles wie bei einem Baukasten wieder eins zu eins ineinander gefügt, sondern vielmehr auch „improvisiert“ wurde, kann man heute noch an den „verpflanzten“ Bauten sehen.

Nette Abstecher und Varianten beim Schlendern ergeben sich auch an den Resten der Stadtmauer. Von einst 1126 Metern Länge ist mit 620 Metern mehr als die Hälfte übriggeblieben. Die Vielzahl der Staffeln quer durch die Stadt erklärt unzweideutig, woher der Spitzname „Stäffelesrutscher“ für die Herrenberger kommt. An prägnanten Bauten herrscht kein Mangel: Sehenswert ist der Stiftsfruchtkasten mit seinen zahlreichen Dachgauben ebenso wie der Bebenhäuser Klosterhof, die Spitalkirche, das Oberamt oder das Rathaus, das von 1806 schon neueren Datums ist. Auch viele der privaten Häuser werden von ihren Besitzern mit offensichtlich beträchtlichem handwerklichem und finanziellem Aufwand in Schuss gehalten.

tipps und informationen

Anfahrt:Herrenberg ist per Bahn gut zu erreichen. Der Bahnhof am Rand der Altstadt liegt an der Gäubahn und ist von Tübingen her Endpunkt der Ammertalbahn. In Herrenberg enden die Stuttgarter S-Bahn-Linie S1 sowie die Regionalbahn aus Tübingen. Mit dem Auto ist Herrenberg aus Richtung Stuttgart über die A 81 sowie über die B 27/B 28 aus Richtung Tübingen zu erreichen. Sportliche nehmen das Fahrrad und radeln über die Filderebene und durch den Schönbuch.

Sehenswertes: Der historische Stadtrundgang führt entlang zahlreicher Stationen: Die Staffeln sind ein Wahrzeichen Herrenbergs. Die Stiftskirche ist das weithin sichtbare Wahrzeichen. Der Turm beherbergt das Glockenmuseum. Die auf weiten Strecken erhaltene Stadtmauer entstand mit der Stadtgründung um das Jahr 1200. Das Dekanat, die frühere Propstei, entstand 1439/40. In der Spitalkirche zum Heiligen Geist ist eine mit Intarsien geschmückte Holzkanzel zu sehen. Unter anderem in der Tübinger Straße und am Marktplatz gibt es markante Fachwerkhäuser. Der 1683/84 errichtete Stiftsfruchtkasten hat ein reich mit Ornamenten verziertes Fachwerk. Der Bebenhäuser Klosterhof aus dem 14. Jahrhundert war ein Pfleghof der Zisterzienser, das Sockelgeschoss stammt von 1484. Im Gebiet Auf dem Graben gibt es eine Häuserzeile, die auf der alten Stadtmauer aufliegt. Die Alte Turnhalle, Herrenbergs erste Turnhalle, wurde im Jahr 1886 eröffnet. Heute dient sie als Veranstaltungssaal.

Naturpark Schönbuch: Der 156 Quadratkilometer große Schönbuch, an dessen Südrand Herrenberg liegt, ist in der Kernzone seit 1972 der erste Naturpark im Land. In den 1960er-Jahren war das Gebiet durch Pläne bedroht, dort einen Flughafen anzulegen. Heute ist der Schönbuch ein beliebtes Gebiet mit seinen zahlreichen Waldwegen für Wanderer und Radfahrer und für Erholungssuchende aus den Räumen Böblingen, Stuttgart und Tübingen. Vor allem die Südflanke des Schönbuchs bietet interessante Ausblicke.