Von Wolfgang Molitor

Und also sprach Angela Merkel, CDU und CSU hätten sich in der Flüchtlingspolitik und in Sachen Obergrenze geeinigt. Möglicherweise kann man der Kanzlerin, die künftig neben den bayerischen Christsozialen auch mit Liberalen und Grünen regieren will, sogar folgen, wenn man bereit ist, die verabredete 200 000-Flüchtlinge-Regelung als Zielmarke mit Ausnahmen und nicht als starre Obergrenze festzulegen.

Dennoch bleibt unterm Strich die Feststellung: Hier wird nach einem jahrelangen und zermürbenden Streit ein Ergebnis vorgelegt, das nach innen abgebrühte Parteigranden beschwichtigen mag, nach außen aber das vor allem von München aus brutalstmöglich zelebrierte Zerwürfnis wenig überzeugend aus der Welt schafft. Vor den ersten Koalitionsgesprächen, die nach der Niedersachsenwahl nun in der kommenden Woche endlich beginnen sollen, bleibt in der Union ein schaler Nachgeschmack übrig. Aus ehemaligen Schwestern sind fürs erste entfernte Verwandte geworden.

Da ist es kein Wunder, dass sich nicht nur in der Union viele fragen, warum dieser formelhafte Kompromiss nicht schon viel früher möglich gewesen sein soll. Die Antwort ist einfach. Durch die Parteibrillen gesehen war es er jetzt, und das auf niedrigem Niveau, zu präsentieren, nachdem sich die CSU mit ihrer Spaltungsstrategie im Bundestagswahlkampf schmerzhaft verzockt hatte - und Parteichef Horst Seehofer nun irgendetwas brauchte, das wie eine zahlenmäßige Klarstellung klingt und von dem deshalb wenigstens seine Adlaten streuen lassen können, der Kompromiss mit Merkel sei für Seehofer persönlich ein „wuchtiger Erfolg“.

Doch was ist eine Einigung wert, die im Bundestag nicht einmal in einer jahrzehntelangen Fraktionsgemeinschaft unumstritten ist? Und die in ihrer parteitaktischen Abgehobenheit, so viel darf man schon jetzt sagen, so gut wie keine Strahlkraft in die umworbene Wählerschaft rechts neben der Union entwickeln wird? Nein, die zehnstündige Unions-Sondierung lässt für die kommenden Jamaika-Gespräche wenig Gutes erwarten, weil sie im Prinzip ein weiteres Zugehen der Kanzlerin auf grüne Forderungen weitgehend verstellt.

Die Festlegung auf sichere Herkunftsländer oder Entscheidungs- und Rückführungszentren für neu ankommende Asylbewerber jedenfalls ist eine kaum verhandelbare Grundlage des Merkel/Seehofer-Kompromisses, der es den Grünen äußerst schwer machen dürfte, hier ihre eigene Handschrift in einer Jamaika-Koalition deutlich zu machen. Grünen-Parteichef Cem Özdemirs Feststellung, auch wenn alle sich bewegen müssten, heiße das nicht, „dass die roten Linien der CDU/CSU auch die roten Linien der gemeinsamen Koalition sein werden“ ist da keine leere Drohung. Zumal es neben der Flüchtlingspolitik bei den Zukunftsplänen bei Rente und Pflege oder den Strategien für Klimaschutz, Digitalisierung oder Europa weiteren erheblichen schwarz-gelb-grünen Klärungsbedarf gibt.

Angela Merkel könnte als lavierende Moderatorin des neuen Koalitionsprozesses ein Stück ihrer Kanzler-Autorität einbüßen. Als CDU-Vorsitzende stehen ihr erst recht turbulente Zeiten bevor. Denn auch das legt der Flüchtlings-Kompromiss offen: Merkel kann sich nicht mehr uneingeschränkt auf ihre schwarze Machtbasis im Bundestag verlassen. Ob die Kanzlerin Zwei-Fronten-Konflikte vermeiden kann, steht auch deshalb bereits vor den ersten Sondierungsgesprächen in den Sternen.