Miriam Steinrücken. Foto: Bulgrin - Bulgrin

Der Winter ist die anstrengendste Zeit des Jahres – emotional betrachtet: Vom November-Blues gleitet der Zartbesaitete über die Dezember-Gefühlsduselei in die Januar-Ernüchterung, dass sich wieder einmal nichts geändert hat.

Esslingen Der Winter ist die anstrengendste Zeit des Jahres – emotional betrachtet. Ins reinste Gefühlschaos stürzt die vierte Jahreszeit empfindsame Seelen. Der November drückt auf die Stimmung, bis es drinnen genauso kalt, nass und grau aussieht wie draußen. Das letzte bisschen Grün weicht dem Nachtfrost. Statt Singvögeln kreisen jetzt Krähen am anthrazitfarbenen Himmel. Das Jahr geht zu Ende, die Natur stirbt, und Zartbesaitete hält der November-Blues fest im Würgegriff.

Wer nicht gänzlich im Weltschmerz versunken ist, der schwingt sich im Dezember zu neuen Höhen auf: Die Weihnachtsdeko in den Straßen zerreißt die Dunkelheit mit heimeligen Lichttupfern. Der Glühwein verwischt gnädig die Ecken und Kanten der Realität. Und wer bislang noch nicht der gefühligen Dezember-Duselei verfallen ist, dem versetzt Wham! mit „Last Christmas“ den entscheidenden Stups. Mit Zimtsternen und Vanillekipferln in einen glückseligen Zuckerrausch versetzt, gleitet der Erwachsene sanft in die Gefühlswelt des Kindes zurück, als der Winter noch weiß, die Familie noch heil und Schenken noch unkompliziert war. Zaghaft keimt die trügerische Hoffnung auf, dass – zumindest dieses Jahr – Heiligabend im heimischen Idyll harmonisch verlaufen könnte.

Das Prinzip Hoffnung jedenfalls lässt sich nicht unterkriegen, und mit Silvester fällt der Startschuss fürs neue Jahr, die Uhr wird zurückgestellt auf Anfang. Der Wunsch, es diesmal besser zu machen, und der Glaube, dass ein Neubeginn möglich ist, verleihen dem Januar die freudig-nervöse Aufbruchstimmung. Bis der Gipfelstürmer, nach kurzem Höhenflug, am Ende des Monats von den eigenen Gewohnheiten und den Zwängen seiner Umwelt bleischwer auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird. Dort, im Alltagstrott, kann er sich dann erholen, bevor es nächsten November wieder losgeht mit den Gefühlsturbulenzen.