Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Kaum jemand glaubt in unserer rational durchgetakteten Zeit noch an Wunder. Dabei muss man sich nur in den Zug setzen. Zu den Wundern, welche die Deutsche Bahn regelmäßig wirkt, zählt die wundersame Zeitvermehrung: Zehn Minuten verwandeln sich unversehens in eine Stunde, manchmal gar in zwei. So man als ungläubiger Zeitgenosse nicht bei Einsteins Relativitätstheorie Zuflucht sucht, kann man ob dieses Phänomens nur in gläubiger Ehrfurcht erstarren.

Die zutiefst spirituelle Erfahrung einer nach Ewigkeit strebenden Zeitlichkeit hält in weniger eindrucksvollen Ausmaßen zwar auch der hiesige S-Bahn-Verkehr bereit. Doch die großen Wunder geschehen wie bei der katholischen Kirche auch bei der Bahn bevorzugt in ländlichen Gefilden. Nur muss man nicht gleich nach Lourdes oder Fatima fahren. Es genügt der Bahnhof Aulendorf. Oder der Bahnhof Rottweil. Selbst bei wenigen Verspätungsminuten erblickt man dort allenfalls noch die Rücklichter der planmäßig gen Allgäu oder Schwarzwald abgefahrenen Anschlüsse. Da der nächste Zug frühestens in einer Stunde geht, beschert einem die wundersame Zeitvermehrung - wie jedes richtige Wunder - das unverhoffte Erlebnis einer wahren Zerknirschung des Herzens, einer meditativen Einkehr auf harten Bahnhofs(büßer)bänken, einer inneren und oftmals auch äußeren Umkehr (etwa wegen verpasster Verabredungen oder nicht mehr machbarer Fahrradausflüge).

Das Personal der Railway to heaven leugnet freilich in völlig falscher Bescheidenheit die eigenen Wunder. Der eine Zug hatte nur zehn Minuten Verspätung, heißt es da, der andere war pünktlich. Profane Äußerungen, welche die religiösen Gefühle der zu heiligem Zorn bekehrten Fahrgastgemeinde verletzen. In Wahrheit ist die Bahn ein Missionswerk: Sie lehrt beten (um erreichte Anschlüsse), sie beweist die Existenz höherer Mächte und die Nichtigkeit der eigenen. Bahnpapst Grube sollte sich freudig zu dieser sakralen Dimension bekennen. Auch wenn Sankt Rüdiger dann zum Märtyrer wird.