Quelle: Unbekannt

Von Nicole Spiegelburg

Wer regelmäßig mit Bus und Bahn unterwegs ist, kennt es sicherlich - das mysteriöse U-Bahn-Gesicht. Es fährt in jeder Bahn mit, vor allem frühmorgens und nach Feierabend. Seltsam verschlossen und hartnäckig schweigend starrt es mürrisch aus dem Fenster oder wahlweise ins Smartphone und gibt uns Rätsel auf: Was hat es zu verbergen? Man weiß es nicht, denn das U-Bahn-Gesicht ist ein überaus scheuer Zeitgenosse. Zufälligen Blicken weicht es blitzschnell aus. Keiner hat es bislang entschlüsseln können, keiner jemals einen Laut von ihm gehört. Was hat es zu verschweigen? Auch das völlig unklar, denn das U-Bahn-Gesicht ist ein professionelles Pokerface: undurchdringlich und undurchschaubar.

Nächster Halt, Reichenbach. Kein Geräusch stört die Stille, außer das Zu- und Aufklappen der Türen. Neue U-Bahn-Gesichter steigen ein, andere wieder aus. Vielleicht bekommen sie das U-Bahn-Gesicht mit dem Kauf ihrer Fahrkarte gratis dazu und legen im Gegenzug ein Schweigegelübde ab? Wer weiß.

Und wieder hält der Zug und das Schweigen dauert an. Bis plötzlich: „Verzeihen Sie, fährt die Bahn auch über Altbach?“ Mehrere U-Bahn-Gesichter fahren ruckartig herum: Da hat es doch tatsächlich einer gewagt, das Schweigen zu brechen! Mit einem Mal lüftet das U-Bahn-Gesicht seine Maske und dahinter zeigt sich ein menschliches Antlitz - verständnisvoll lächelnd und einfach offen. Ein Aufatmen geht durch die Menge und die Erkenntnis: U-Bahn-Gesichter sind Menschen wie du und ich, zumindest morgens um 7 in der S-Bahn.