Quelle: Unbekannt

„Glückliches Stutgard, nimm freundlich den Fremdling mir auf!“: Hölderlins Wunsch ist Wirklichkeit geworden.Die Klischees über Stuttgart gleichen einer Wiederholung von Behauptungen, die schon immer falsch waren.

Von Martin Mezger

Stuttgart - Nein, bitte nicht schon wieder diese zum ironischen Mitleidslächeln verzogenen Lippen. „Waaas - aus Stuttgart?!“ Noch schlimmer mit anmaßender Dialektimitation: „Aus Schduggart?“ Klingt wie das berüchtigte Kampfflugzeug beim Absturz. Als Münchner, Kölner, Berliner, als Wiener, Pariser oder New Yorker sowieso - da ist man wer, da verkörpert man eine Marke, reich orchestriert mit hochmögenden Kulturgaben und urbanem Lifestyle-Prestige. Als ob jedes Großmaul aus Wedding ein großer Weltstadtgeist und jeder Eckensteher aus Brooklyn ein zweiter Andy Warhol wäre. Als Stuttgarter ist man - nichts. Oder weniger als nichts: ein Minus, zusammengekrampft aus Kehrwoche, Kleinkariertheit und stillschweigend unterstellten Komplexen. Der Ruf, der unserer Landeshauptstadt voraus- oder hinterhereilt, ist immer noch verheerend - zu erleben bei Urlaubsbekanntschaften, auswärtigen Geschäftsterminen, anderen Kontakten mit dem Rest der Welt. Als bekennendem Stuttgarter fällt einem meist nicht mehr dazu ein als der rhetorische Dreh von Linksparteimitgliedern, wenn es um die gewesene DDR geht: Alles ist auch nicht schlecht.

Woher kommt dieses realitätsfreie Mief- und Muff-Image, woher die eingeborene Verzagtheit beim Erwidern? Die Klischee-Klitterung in Sachen Stuttgart gleicht einer unzeitgemäßen Betrachtung, allerdings auch einer hartnäckigen Wiederholung von Behauptungen, die schon immer falsch waren. Stuttgart als Hauptquartier des schwäbischen Pietkong, der in eifernder Glaubensstrenge die möglichst mit der Zahnbürste gesäuberten Bürgersteige spätestens um acht Uhr abends hochklappen lässt: Das Bild hat nicht einmal im 19. Jahrhundert gestimmt, als es die Wirklichkeit in der Residenzstadt eines ärmlichen Königreichs noch eher getroffen haben mag. Heute ist es gegenstandslos. Wer’s nicht glaubt, darf sich gerne mal ins Stuttgarter Nachtleben zwischen Theodor-Heuss-Straße, Hans-im-Glück-Brunnen und Bohnenviertel stürzen, mit proppenvollen Restaurants und allerlei Clubs für allerlei Musikgeschmäcker und Abschleppzwecke - samt den üblichen Dissonanzen in der Großstadt-Symphonie, von Türsteher-Gangs bis zu Drogenproblemen. Auch in den Stadtteilen tobt in einer vielfältigen Kneipenszene und in zig Locations ein Leben, das im Vergleich nicht wenige Berliner Kieze in die Tote-Hose-Konfektion weist. Pietismus? Quatsch. In Stuttgart herrscht schierer Hedonismus, gesponsert freilich vom Wohlstand in der wirtschaftsstarken Region.

Gleichwohl wirken die im Klischeedienst ergrauten Vorurteile mächtig nach. So wird gerade der internationale Erfolg des Wirtschaftsstandorts Stuttgart mit missmutig verhohlenem Neid aufs enge Mentalitätswesen reduziert: aufs schwäbische Tüftler- und Schaffertum, gepaart mit dem angeblich landestypischen Geiz. Ob beim Daimler, beim Bosch oder Porsche: Sobald Stuttgart draufsteht, grassiert freudloses protestantisches Arbeitsethos. Meint das Klischee. Als ob das alles nicht längst Weltfirmen wären.

Neue Windungen ins Negativ-Patchwork flochten in jüngeren Jahren Feinstaub, Dauerstau, überhöhte Miet- und Immobilienpreise und auch Stuttgart 21, letzteres in der Außenwelt mit Kopfschütteln à la „Die spinnen, die Schwaben“ quittiert; wobei meist unklar bleibt, ob das Kopfschütteln dem tiefer zu legenden Bahnhof, der Wutbürger-Renitenz oder beidem zugleich gilt. Immerhin weiß seither der Rest der Republik von der Existenz des Juchtenkäfers, der in einem Loch namens Talkessel sein artengeschütztes Wesen treibt.

Es ist freilich nicht diesem mittlerweile prominentesten Stuttgarter zu verdanken, dass man diese Stadt lieben kann - trotz allem, was sich ignorant oder auch berechtigt zum Minussaldo ihres Images summiert. Die erste Strophe eines Hoheliedes auf Stuttgart muss anheben mit dem Lob des sogenannten Weichbilds: Stuttgart hat von allen deutschen Großstädten die mit Abstand reizvollste topographische Lage. Dass eine seit mindestens sechs Jahrzehnten konsequent idiotische Verkehrspolitik ein Feinstaubproblem daraus machte, ist nicht die Schuld der Landschaft und der ihr eingefügten urbanen Organik. Sie erschließt sich zum Beispiel beim Blick vom Trümmerberg auf dem Birkenkopf als grandioses städtisches Amphitheater, das sich wie eine überwältigende Inszenierung zum Neckartal und der Kulisse der östlichen Hügelzüge öffnet. Nachdenkliches mischt sich allerdings ins hymnische Hochgefühl, steht man an diesem Aussichtspunkt doch auf den steinernen Fragmenten der zerbombten Stadt. Und was unten auferstanden aus Ruinen ist, ähnelt oftmals einem Freilichtmuseum architektonischer und urbaner Todsünden seit der Nachkriegszeit. Aber halt nicht nur: Ein Gang durch die inneren und auch äußeren Stadtbezirke schult die Aufmerksamkeit für kostbare Baukunst-Zeugnisse aus der Gründerzeit, dem Jugendstil oder eben der Moderne, die keineswegs nur in der Weißenhofsiedlung modellhafte Markanz hinterlassen hat. Dass sich Stuttgart an bauhistorischem Reiseführer-Prunk nicht mit der touristischen Top-Liga messen kann, ist die eine Sache. Die andere ist eine mikrokosmische Eleganz im Akkord von Baulichkeit, Topographie und Urbanität, welche etlichen, bisweilen auch verborgenen Stuttgart-Veduten ihre Identität gibt und harmonisch einwirkt auf ein Lebensgefühl, das in vielen Bezirken seine Räume gegen drohenden Niedergang, Verkehrsfluten und Fehlplanungen zurückerobert hat. Der Stuttgarter Westen, der Süden, der aufstrebende Osten besitzen inzwischen wieder das unverwechselbare Flair städtischer Biotope mit allen Facetten des Sozialen, Sinnlichen und eben auch Kommerziellen. Wonnen der Gentrifizierung? Zugegeben. Wenn an einer der neuen, netten Café-Theken kleine köstliche Schnittchen für viel Geld reißenden Absatz finden, ist das Milieu proper prosperierend. Im selben Sinne sind die viel beklagten Immobilienpreise nicht nur der Negativ-Faktor, als der sie verbucht werden, sondern zugleich dessen Widerlegung: Ausdruck der Attraktivität.

Trotzdem ist Stuttgart nicht exklusiv, sondern entrichtet mit alldem einen Tribut an die Dynamik einer Weltstadt im Westentaschenformat, weltoffener als manch große Metropole: 44 Prozent der Stuttgarter haben heute einen Migrationshintergrund, mit oder ohne deutschen Pass. „Glückliches Stutgard, nimm freundlich den Fremdling mir auf!“: Hölderlins Wunsch aus seinem lyrischen Lob der Stadt ist Wirklichkeit geworden - in Gestalt einer erfreulichen, lebendigen und alles in allem konfliktarmen Internationalität.

Schwäbische Bodenständigkeit und globale Vielfalt, städtebaulicher Wahnsinn und architektonische Preziosen, Weinberge und Hightech-Tempel: Stuttgart ist eine Berührung der Extreme, manchmal gar von der Anmutung einer surrealen Vision, in der wenige Schritte die Perspektive ändern von glasglockenhafter Gemütlichkeit zu pulsierender Vitalität, von landstädtischer Rest-Idylle zu Wachstumsfaktoren in Glas- und Betonmonstern. In Stuttgart ist alles möglich, nicht zuletzt kulturell: Ballettwunder, Opernhaus des Jahres, eine hyperaktive Szene in allen Sparten, ohne die am Tropf bundesweit kassierter Zuschüsse hängende Wichtigtuerei der Beliebigkeiten wie in Berlin. Nur sollte Stuttgart, Deutschlands lebenswerteste Großstadt, endlich auch groß von sich denken. Und entsprechend handeln.