Von Martin Mezger

Stuttgart - Ja, das hört man gern, das ist Musik, in die man sich akustisch hineinlegen könnte: sphärische Harmonien in langsamer Rotation wie der ungeheure Kosmos selbst, ein Beitrag zur Ästhetik des Erhabenen. Klangbänder werden in ein dicht gewobenes, satt-sonores Pianissimo verschränkt, und mittendrin sitzt das Publikum im restlos gefüllten großen Saal des Stuttgarter Theaterhauses: Beschallt vom in zwei Fraktionen geteilten Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, das in Emilio Pomáricos Leitung von den hinteren oberen Rängen spielt und von vorn, wo sogar zwischen den Orchestergruppen noch einige Zuhörerreihen platziert sind. Der Raum wird hier zum Klang, das Ohr ist nicht nur Empfänger, sondern Mitgestalter akustischer Mischungsverhältnisse, je nachdem, wohin es seine empfindsamen Lauschangriffe richtet in diesem Mobile lang gehaltener Töne, flirrender Oszillationen, sachte pulsierender Farbwirkungen. Environment-Sound also, neudeutsch gesprochen, bei dem man sich eigentlich frei im Saal bewegen müsste. Kann man aber nicht.

Trotzdem eine Sensation? Naja. Irgendwann im Laufe der 45-minütigen Dauer dämmert einem, dass der zunächst wohlige Ohrenschein trügt. Dass hier einer die Knirsch- und Quietsch-Zonen des Neue-Musik-Klischees verlässt, zeugt nur von einer löblichen, aber längst selbstverständlichen Offenheit, wie sie sich im weit über die engeren Szene-Zirkel hinausreichenden Publikumserfolg des Stuttgarter Eclat-Festivals spiegeln mag. So auch im Abschlusskonzert mit der Uraufführung von Klaus Langs „viola.harmonium.orchester“, von der hier die Rede ist. Tatsächlich ist die Komposition, deren Titel ehrlicherweise an Werke Morton Feldmans erinnert, ein raffiniertes Sampling einschlägiger Verfahrensweisen seit den 70er-Jahren. Lang lässt entschleunigte Skalen absteigen, dröselt Konturen ornamental auf, überlagert die Zeitebenen wuselnder Mikro- und langsamer Makrostrukturen, Klang-Atome und Ewigkeit; er schichtet Dur-Dreiklänge und engintervallische Dissonanzen ohne dissonierende Wirkung; er instrumentiert Lichtreflexe und Schattierungen. Kurzum: Das Strickmuster erinnert an Feldmans Orchesterklangteppich „Coptic Light“, an Minimal Music in maximalem Format, entfernt sogar an Arvo Pärts Klingelingeling. Langs Opus mit dem verschmelzenden Solo-Duo - Barbara Konrad an der Viola d‘amore, der Komponist am Harmonium - als bisweilen einsame Geister über den sanften Klangfluten legt letztlich nur die vergehende Zeit als sphärisch lange Weile frei - und ein enormes Kompositionshandwerk. Es ist Abgestandenes in attraktivster Gestalt.

Bemüht Lang im Programmheft den Koran - „Und du siehst Berge, die du fest gegründet glaubst, doch sie bewegen sich wie die Bewegung der Wolken“ -, liefert Sergej Newski mit „Cloud ground“ das titelgemäße Gegenstück: fest gegründete Wolken. Freilich will „Cloud“ im digitalen Sinne als Datenfeld verstanden sein, und „Ground“ musikhistorisch als feste Bass-Formel. Also bedient sich Newski aus dem doppelten musikalischen Datenspeicher und formt daraus ein zwar regelrechtes, aber wie ausgebeint und daher grundlos statt gegründet wirkendes Violinkonzert, in dem die Solistin Elena Revich ausstrahlungsarm gegen die Orchestermassive anspielt.

Rebecca Saunders „Void“ (leer) in Anlehnung an Becketts „Texte um Nichts“ macht viel Lärm um dieses Nichts, statt Verstummen setzt es Rumoren, murmelnde Streicher-Deklamationen, ein marschierendes Crescendo gar. Die Dialektik von Becketts „brüllender Stille“ verliert sich an eine musikalische Materialbearbeitungswerkstatt mit eindrucksvoll intensiviertem Workflow am solistischen Schlagwerk (Christian Dierstein und Dirk Rothbrust): eine Orchester- und Percussion-Show, bravourös exekutiert, aber ziemlich beliebig. Da hört man doch lieber Klaus Langs zeitzehrenden Ohrenschmaus.