Virtuose ohne Eigenschaften: Till Brönner ist ein glänzender Stilist, bleibt aber stets berechenbar. Foto: Hans Kumpf Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Dieses Stück ist ein Sog: Es zoomt mitten hinein in einen Strudel aus Kapitalismuskritik, Klimawandel und Kolonialgeschichte, um mit grandioser Sprachvirtuosität den Abstand eines ganzen Sonnensystems zu gewinnen und vom Vergehen unserer Welt in Milliarden Jahren zu erzählen.

Ganz bewusst schreibt der junge Österreicher Thomas Köck, gerade 30 Jahre alt, den Stücktitel seiner „verirrten sinfonie“ klein: Es sind wohl kaum die „paradies fluten“ mit Bindestrich, in denen wir hier untergehen, viel eher flutet er mit einem Ausrufezeichen die Bühne - mit apokalyptischen Schilderungen, hochgerechneten Visionen des untergehenden Europa, mit einer berauschenden Potenzierung des nüchternen Arbeitsmarkt-Slangs und mit Dialogen, die ständig eine Distanz zu sich selbst halten, indem sie die Regieanweisung gleich mitsprechen. Sowohl als Tanz- wie als Sprechtheater wurde das mit dem Kleist-Förderpreis prämierte Werk bereits inszeniert, beide Uraufführungen liegen kaum ein Jahr zurück. Jetzt hatte das sprachgewaltige Opus in der Stuttgarter Rampe Premiere, wo man auf faszinierende Weise beides vereint.

Rabiate, wilde Körperlichkeit

Der „Markt des Kapitalismus“ beginnt bereits als bespielte Installation im Foyer, ein Punching-Sack aus alten Autoreifen setzt das Thema: Es geht um Kautschuk, der Südamerika im 19. Jahrhundert plötzlichen Reichtum und den Fluch des Kolonialismus brachte; in einem zweiten Handlungsstrang kostet er eine Kleinfamilie die Existenz, weil sich der Vater mit seiner Autowerkstatt unbedingt selbstständig machen muss. Das Untergehen in den Fluten des Kapitalismus führt die leidenden Indios im Dschungel vor und setzt im Heute das „querfinanzierte“ Leben der Tochter als unterbezahlte Tänzerin dagegen, kontrastiert den Bau eines Opernhauses in Manaus mit dem schlimmen Ende des kranken Vaters im Heim. Als der kämpft Niko Eleftheriadis mit zitternder Wut gegen die Zwänge des Marktes, Steffi Schadeweg zetert als seine Frau und mutiert kurz darauf zur eleganten Sponsorenwerberin für die neuen Opernstühle.

Während Raimund Widra als junger, engagierter Architekt in den lustigsten Posen über eine Schaumbahn immer wieder auf uns zu flutscht und doch so gerne die Indios retten möchte, klagt Sarah Bauerett als bühnenhohe Projektion übers moderne Ausgebeutetwerden. Wenn in Milliarden Jahren die Meere verdampfen, so haben wir am Anfang erfahren, werden Gummischnipsel im Marianengraben von uns übrig bleiben.

Das großartige, zehnköpfige Ensemble, das keinen Unterschied zwischen Tänzern und Schauspielern macht, ertrinkt nur fast in den Fluten von Texten, denn es setzt ihnen eine rabiate, wilde Körperlichkeit entgegen. Gemeinsam mit Rampe-Intendantin Marie Bues führte die Choreografin Nicki Liszta Regie, was sich nicht nur in einer bewegungsintensiven, spannenden Inszenierung zwischen Satire und groteskem Pathos niederschlägt, sondern auch immer wieder in wütenden, oft autoaggressiven Tanzszenen, mit denen sich die Darsteller gegenseitig zu Boden schleudern oder die Wände hoch stürmen. Zum psychedelischen Hardrock-Wummern der dreiköpfigen Band von Heiko Giering hat dieser Tanz nichts Geziertes, nichts Schönes, sondern er ist pure, elementare Bewegung bis zum Aufprall.

Monolog im Futur zwei

Die Fluten sprühen aus den Mündern und visualisieren das Verdampfen der Meere, während ein vierstimmiger Chor vom Kapitalismus singt, Nackte verschwinden in Stapeln von Autoreifen, ein unheimlicher Trauermarsch zieht mit Pauke und Melodica über die Bühne.

Am Ende löst sich ein jedes und alles in Raum und Zeit auf - wir Zuschauer fluten auf die Bühne, wo ein fragender Monolog im zweiten Futur auch grammatikalisch die Zukunft zur Vergangenheit macht. Dann verschwindet die fatalistische Polonaise der Mitwirkenden durch die Außentüre und lässt uns alleine zurück.

Weitere Termine: 22.-24.9., 17.-19.11., 8.-10.12.

www.theaterrampe.de