Sieht sich in erster Linie als Ermöglicher: Reid Anderson. Foto: Weißbrod Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - „Ich weiß auch was über Sex, wenn Sie wollen“, grinste der Ballettintendant, als sein Interviewpartner zum Einstieg den Titel der morgendlichen Gesprächsrunde von einem berühmten Woody-Allen-Film herleitete. „Was Sie schon immer wissen wollten …“, hieß die Matinee im Opernhaus, bei der sich Reid Anderson, Intendant des Stuttgarter Balletts seit 1996, den Fragen von Tim Schleider, Kulturchef bei der seit April vereinten Redaktion der Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten, stellte. Obwohl der tatsächlich genau das fragte, was wir ohnehin schon lange wissen - wann merkt ein Kind, dass es Tänzer werden will, geht es im Ballett wirklich so zu wie im Film „Black Swan“, was macht ein Tänzer, nachdem er aufhört -, war der kanadische Ballettchef in bester Auskunftslaune und verzweigte sich in seinen launigen Antworten zu einem breiten Überblick über seine ganz persönliche Art und Weise, den Beruf des Intendanten auszuüben.

Anderson erzählte von den Gesprächen, die er jedes Jahr mit jedem Tänzer führt: „Meine Devise ist völlig anders als die anderer Ballettdirektoren: Ich frage nicht, was können die Tänzer für mich machen, sondern: Was kann ich für sie machen?“. Die Berufsauffassung erklärt das Geheimnis, warum so viele gute Tänzer unter seiner Intendanz in Stuttgart herangewachsen sind. Er versorgt sie nicht nur bestmöglich mit Rollen, er kümmert sich auch noch um ihr „nächstes Leben“, weist sie zum Beispiel früh darauf hin, sich um einen zweiten Beruf zu kümmern, oder bildet sie so gut aus, dass sie als Ballettdirektoren gefragt sind; erstaunlich viele davon hat er während der letzten 20 Jahre auf die Welt losgelassen, fast alle kehren zur Festwoche mit ihren Tänzern nach Stuttgart zurück.

Lektüre auf dem Heimtrainer

Er sei sehr glücklich, kein Choreograf zu sein, weil ihm das einen objektiveren Blick auf seine Tänzer eröffnet, sprach der Kanadier: „Ich bin eher ein Arrangeur, ein Ermöglicher“. Gefragt, wie sich seine Ausbildung zum Ballettdirektor zusammengesetzt habe, erteilte Anderson die echt schwäbische Antwort „Äbbes von ällem“. Wir erfuhren, dass der kleine Reid Tuba und Dudelsack spielte, oder wie gut der große Reid in Kanada als Geldeinwerber für sein chronisch unterfinanziertes National Ballet schließlich wurde: „Ich könnte Schnee an Eskimos verkaufen.“ Morgens auf dem Heimtrainer liest er Zeitungen und Büropapiere - oder er studiert DVDs von neuen Choreografen: „Ich muss mindestens zwei Sachen gleichzeitig machen.“

Anderson schwärmte von seinem Hauschoreografen Marco Goecke, von dem er nur „noch hingerissener“ geworden sei; man hätte an dieser Stelle ja vielleicht auch nach dem Misserfolg von Demis Volpis „Salome“ fragen können. Der Intendant hob hervor, dass es „beim Ballett immer noch Etikette und Manieren“ gibt, was er nicht verlieren möchte, und er bilanzierte am Schluss: „Die Spitze meines Lebens ist Stuttgart.“ Mit der kleinen Statistik, die dem Gespräch vorausging, lässt sich der Erfolg der Ära Anderson eindrucksvoll belegen: eine Auslastung zwischen 92 und 99,9 Prozent, 95 Uraufführungen in 20 Jahren, darunter acht neue Handlungsballette (auch beim Bayerischen Staatsballett waren es übrigens über 50 Uraufführungen in dieser Zeit, nicht nur 26), neun neue Ballettdirektoren, zehn Jahre Ballett im Park und endlich ein neues Schulgebäude, das war sicher die schwerste Geburt. Man darf davon ausgehen, dass der Ballettintendant vom 15. Juli an für zehn Tage lang heftig gefeiert werden wird, die über 10 000 Karten sind fast alle weg.