Derya Aydin Quelle: Unbekannt

(gg) - Warum sind die Reaktionen auf die Armenien-Resolution im Bundestag so heftig? Das hat die Eßlinger Zeitung Türken und türkischstämmige Deutsche im Landkreis gefragt.

Nach zahlreichen anderen Ländern, darunter Frankreich, Italien, Russland und die Schweiz, hat Anfang des Monats auch der deutsche Bundestag die Massaker an Armeniern in den Jahren 1915 und 1916 als Völkermord anerkannt. Die Reaktionen vonseiten der türkischen Regierung besonders auf Bundestagsabgeordnete türkischer Abstammung waren heftig.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat in seiner mittlerweile „Blutrede“ genannten Ansprache gar einen Bluttest für Grünen-Chef Cem Özdemir gefordert. Mittlerweile werden in der Türkei laut Medienberichten sogar strafrechtliche Verfahren gegen die türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten angestrengt, die ihnen, sollten sie in die Türkei reisen, bis zu drei Jahre Haft einbringen können. Ganz zu schweigen von den Morddrohungen gegen die Parlamentarier von Türken in Deutschland.

Nicht alle Gegner sind pro AKP

Auch für die Türken und Deutschen mit türkischen Wurzeln, die im Landkreis leben, ist das Thema etwas, was sie persönlich betroffen macht. Wie viele andere kritisieren die sieben Befragten, dass diese Entscheidung von Politikern und nicht von historischen Experten getroffen wurden. Die Türkei hätte schon vor Jahren das Angebot gemacht, die Archive zu durchforsten, doch nie habe es darauf von internationaler Seite eine Reaktion gegeben. Armenien habe seine Archive dagegen verschlossen gehalten. Sie fordern alle eine internationale Kommission von armenischen, türkischen und anderen unabhängigen Historikern, die über das Thema entscheiden sollen.

Dass sie in diesem Punkt übereinstimmen, heißt aber nicht, dass alle Befragten politisch für die konservative, türkische Regierungspartei AKP sind. Viele halten den Regierungsstil von Ministerpräsident Erdogan für zu autoritär. Was die Türken hierzulande so emotional reagieren lässt, sind ihre türkischen Wurzeln, die ihnen noch immer viel Halt geben, auch wenn sie bereits in Deutschland geboren sind. „Hierzulande wird nicht von wir, sondern von Nationen gesprochen, deswegen gibt es weiterhin Unterschiede“, erklärt etwa Nami Gül.

Dennoch fühlen sich alle Befragten wohl in Deutschland, sind zufrieden mit ihren beruflichen Chancen und haben einen Freundeskreis, der über die türkische Gemeinde hinausgeht. Nur der aufkommende Nationalismus von Bewegungen wie AfD und Pegida bereitet ihnen Bauchschmerzen.

Serdar Düzgün aus Plochingen ist Vorsitzender des dortigen Türkisch-Deutsch-Islamischen Kulturzentrums. „Wir sind von der Armenienresolution so betroffen, weil sie im Bundestag so plötzlich beschlossen wurde“, erklärt der 25-Jährige. Er glaubt aufgrund eigener Recherchen nicht, dass es berechtigt ist, die Geschehnisse zwischen Osmanischem Reich und den Armeniern im Jahr 1915 einen Genozid zu nennen, würde nach eigener Aussage aber jedes Ergebnis einer Kommission von Historikern akzeptieren.

Düzgün ist weder Anhänger noch Gegner der aktuellen türkischen Regierung, er recherchiere über verschiedene Themen und bewerte sie einzeln: „Ich habe meine eigene Stellung, meinen eigenen Kopf.“ In seinem Verein könne jeder offen debattieren, er sei an keine Partei gebunden. Allgemein stellt der Industriekaufmann aber fest, dass sich in der türkischen Gesellschaft in Deutschland die Fronten in den letzten Jahren verhärtet haben: Die Erdogan-Befürworter hätten mehr Distanz zum Rest.

„Ich fühle mich hier zuhause und liebe es, ein Teil der deutschen Kultur zu sein“, sagt Düzgün, der für eine Hochleistungskeramikfirma arbeitet und nebenberuflich International Management studiert. Er sei hier geboren, dennoch würden die Wurzeln in der Türkei liegen, deren Kultur er ausleben können will. Das müsse die hiesige Gesellschaft akzeptieren, damit sich Türkischstämmige nicht ausgegrenzt fühlen. Denn das Land ihrer Ahnen gibt ihnen Kraft: „Wenn die Lage in der Türkei stabil ist, fühlen sich die türkischen Bürger hier in Deutschland wohler.“

Güldesen Tiryaki aus Aichwald arbeitet im Ministerium für Integration und ist aktiv im Türkischen Kulturverein Esslingen. Die Armenien-Resolution trifft ihre Heimat, findet die 54-Jährige. Deutschland habe mit Flüchtlingskrise und Reibereien in der EU andere Probleme, als gerade jetzt über dieses Thema zu debattieren. Allgemein ärgert sich Tiryaki oft über die hiesige Berichterstattung zur Türkei. Etwa wenn von Kurden gesprochen wird, obwohl die PKK gemeint ist. Trotzdem sieht sie Erdogan kritisch: Er sei ein autoritärer Staatsmann. „Kompromisse mit so einem Menschen zu finden, ist schwierig“, sagt sie in Bezug auf den Flüchtlingsdeal.

Auch im Landkreis bemerkt die Mutter eines 26-Jährigen den Einfluss der Regierung in Ankara. „Wir vom Kulturverein halten Abstand zu Religion und Politik, aber sonst ist der Druck schon da.“ Sie äußere ihre politische Meinung nicht überall. Tiryaki stellt auch eine konservative Tendenz im Alltag fest: Das türkische Fernsehprogramm zeige ein traditionelles Frauenbild und wenig regierungskritische Information. Und auch auf der Straße tragen Frauen Kopfbedeckung. „In der ersten Generation, die hierherkam, sah man selten ein Kopftuch“, sagt Tiryaki, die genau wie ihre Mutter nicht verhüllt ist. Sie glaubt, dass einige der jüngeren Generation sich verschleiern, um Idealismus zu demonstrieren und sich abzugrenzen. Die Schuld dafür sieht sie nicht beim deutschen Staat: „Ich bin hier groß geworden und hatte alle Möglichkeiten.“

Erdal Özdogan aus Esslingen ist selbstständiger Ingenieur und trat bei der Landtagswahl 2016 für die FDP an. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland seien schon seit Jahrzehnten mit Spannungen belegt, sagt er. Es hätte ihn gewundert, wenn das jetzt anders wäre. Erdogans Politik lehnt Özdogan ab. Man könne aber nicht nur dem türkischen Staatschef Schuld zuweisen, sondern müsse auch dessen Gefolgschaft überzeugen.

Nichtsdestotrotz findet auch der Familienvater, dass die Entscheidung zur Armenien-Resolution im Bundestag überhastet gefallen ist: Man hätte vorab lieber eine historische Kommission ein paar Jahre lang forschen lassen sollen. Grund für die sehr emotionale Reaktion vieler Türken sei ihr Nationalstolz. Dass sich auch hierzulande nicht wenige mehr der Türkei als Deutschland zugehörig fühlen, führt der 47-Jährige darauf zurück, dass sie sich in Deutschland nicht angenommen fühlen.

Allgemein macht Özdogan der überall erstarkende Nationalismus Sorgen. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Trumps und Gaulands zu bekämpfen. Auch mit dem Flüchtlingspakt ist der Ingenieur unzufrieden: Die Türkei könne nicht noch mehr Asylsuchende versorgen, während die EU ihre Möglichkeiten nicht ausschöpfe. „Ich mache eine ganz einfache Rechnung: Europa hat 450 Millionen Einwohner, da ist es sicherlich in der Lage, einige Millionen Flüchtlinge ohne Probleme aufzunehmen.“

Timur Yegen aus Aichwald ist Sicherheitsmann und arbeitet mit Flüchtlingen. Er empfindet Enttäuschung und Wut, wenn er an die Armenien-Resolution denkt. „Was die Türkei während des Ersten Weltkrieges getan hat, ist nicht gut zu reden.“ Das Wort Genozid für einen Krieg, in dem zwei Millionen Türken und 600 000 Armenier gestorben sind, hält er aber für unverhältnismäßig. Die verbalen und juristischen Angriffe auf türkischstämmige Bundestagsabgeordnete vonseiten der türkischen Regierung und Privatpersonen lehnt Yegen ab. „Von der Regierung kann man ja nichts mehr halten“, sagt der Erdogan-Kritiker.

Dass sich viele Türkischstämmige mehr der Türkei als Deutschland verbunden fühlen, liegt Yegen zufolge einerseits an Versäumnissen der deutschen Politik in den vergangenen Jahrzehnten, andererseits an kultureller Abstammung: Viele der vier Millionen Türken hierzulande seien aus Ostanatolien, einer konservativen Region. Der 26-Jährige selbst hat einen deutschen Pass. „Ich bin in Esslingen geboren, natürlich ist das mein Zuhause.“ Sein Umfeld sei multikulturell.

Um die Beziehungen zwischen Türkei und Deutschland zu verbessern, brauche es Zeit, so Yegen. Den Flüchtlingsdeal sieht er aber zum Scheitern verurteilt - und hält auch einen EU-Beitritt der Türkei aufgrund der fragilen Wirtschaftssituation nicht für sinnvoll.

Derya Aydin aus Istanbul hat Politikwissenschaften studiert und arbeitet seit einem Jahr an einer Universität am Bosporus. Vorher wohnte sie in Denkendorf und war dort Gemeinderatsmitglied. Die politische Situation in der Türkei bewerte sie negativ, sagt die 26-Jährige. Sie stelle auch in Teilen Europas angesichts der Flüchtlingskrise die Tendenz fest, einen autoritären Staat aufzubauen. Die Folgen eines solchen Regierungsstiles spüre die türkische Bevölkerung gerade am eigenen Leib. Aydin bemerkt das an ihrer Arbeitsstelle, einem regierungsfernen Institut. „Wenn man bürokratische Sachen zu erledigen hat, wird es hinausgezögert.“

Angesichts der Terroranschläge in der Türkei kann die Politikwissenschaftlerin verstehen, dass Anti-Terror-Gesetze verschärft wurden. „Presse- und Meinungsfreiheit sollten darunter aber nicht leiden“, so Aydin. Dennoch findet auch sie die Armenien-Resolution unklug - obwohl sie sich selbst davon nicht angegriffen fühlt. „Ich plädiere dafür, dass bei Fällen, die für eine große Menschenmasse emotional wichtig sind, zuerst eine historische Erforschung und danach die politische Entscheidung stattfindet.“

In Bezug auf die Verbundenheit vieler Türken in Deutschland zum Land ihrer Vorfahren sagt Aydin, es sei besser, die Probleme in seiner eigenen Umgebung zu betrachten, statt vom Ausland aus die Politik in der Türkei ändern zu wollen. Auch wenn sie selbst sich nie benachteiligt gefühlt hat, hat Derya Aydin doch auch die Unterschiede in ihrem kulturellen Umfeld zu spüren bekommen. Die jahrelange Politik der Leitkultur in Deutschland habe viel an Integration verhindert, sagt sie.

Nami Gül aus Esslingen ist Maschinenbaukonstrukteur und war Vorsitzender von Diyanet türkisch-islamischer Kulturverein Esslingen. Zur Pattsituation im Flüchtlingsdeal glaubt er, dass eine Lösung gefunden, aber die Türkei in puncto Anti-Terror-Gesetze nicht nachgeben wird. „Man kann die deutsche Demokratie nicht eins zu eins in den Osten einpflanzen“, sagt der 52-Jährige. Die Menschen würden seit Jahrzehnten im Bürgerkrieg gegen die PKK bluten und die Regierung versuche das, mit den Anti-Terror-Gesetzen zu verhindern.

Die Berichte, regierungskritischer Journalismus werde in der Türkei durch Verhaftungen unterbunden, glaubt Gül nicht: Es gebe noch mehr als einen kritischen Reporter, der seine Arbeit mache. Ebensowenig kann er sich vorstellen, dass die türkische Regierung hierzulande Einfluss nimmt. Die türkischen Vereine seien autark, man könne niemanden zwingen, Ideologien anzunehmen. Wie die Wahlen gezeigt hätten, würden hier viele Erdogans AKP unterstützen.

Auch Nami Gül trifft das Thema Armenien-Resolution. Er sei in Deutschland zur Schule gegangen, wo das Thema im Geschichtsunterricht nicht vorkam. „Umso verwunderlicher finde ich, dass der deutsche Bundestag darüber entscheidet“, so Gül.