Fühlen sich von der Politik im Stich gelassen: Erich Kemmner und Sohn Felix. Foto: Holzwarth Quelle: Unbekannt

„Die Hilfsmittel sollten dazu benutzt werden, extreme Härten, die viele Betriebe aktuell erleiden, zu lindern.“ „Es ist schwierig, einen Schuldigen auszumachen. Die Suppe, die ausgelöffelt werden muss, ist groß.“

Von Matthäus Klemke

Milch gibt es in Supermärkten zum Spottpreis. Was die Kunden freut, treibt Milchbauern die Sorgenfalten auf die Stirn. Landwirte wie Erich Kemmner aus Unterensingen fürchten um die Zukunft ihrer Familienbetriebe. Er spricht über die Auswirkungen der Milchkrise und wieso er die 100 Millionen Euro Soforthilfe für „eine Schande“ hält.

„Von dem, was wir hier haben, hängt die Existenz unserer ganzen Familie ab“, sagt der Milchbauer Erich Kemmner und zeigt auf den 1500 Quadratmeter großen Stall, der auf dem Hof am Esslinger Weg in Unterensingen steht. Schön geräumig, mit viel Platz für die 80 Milchkühe und reichlich frischer Luft, die von außen hereinströmt.

2013 haben die Kemmners den Stall bauen lassen - als sie noch 35 Cent pro Liter für ihre Milch bekommen haben. „Davon konnte man leben“, sagt Kemmner. Heute bangt er um die Zukunft des Familienbetriebs. 25 Cent zahlt die Molkerei mittlerweile pro Liter: „Wir machen seit Monaten minus. Wenn ich meinen Stundenlohn ausrechne, dann schäme ich mich.“

Familie Kemmner führt den Betrieb bereits in der dritten Generation: „Mein Vater war Milchbauer, genauso wie sein Vater vor ihm.“ Erich Kemmners Sohn Felix soll den Betrieb irgendwann übernehmen: „Er hat eine Ausbildung zum Landwirt gemacht. Heute würde ich ihm sagen, er soll sich etwas anderes suchen.“

Der 23-Jährige macht derzeit seinen Techniker an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) in Nürtingen. In seiner Klasse sind 16 angehende Landwirte. Die Not der Milchbauern ist auch unter ihnen ein Thema: „Die Stimmung ist schlecht. Die Leute sind sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich das Risiko eingehen sollen, diesen Beruf zu ergreifen. “, sagt der junge Mann. Sein Vater zieht ein paar lose Notizzettel aus der Tasche. Der 58-Jährige hat sich die wichtigsten Zahlen aufgeschrieben: Wie viele Milchkühe es in Deutschland gibt, wie viele Milcherzeuger noch übrig geblieben sind und was genau ihnen die 100 Millionen Soforthilfe bringen, die Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt beim Milchgipfel zugesagt hatte: „Von den 100 Millionen Soforthilfe bekomme ich 0,003 Euro pro Liter Milch“, hat Kemmner ausgerechnet: „Das ist eine politische Alibihandlung und eine Schande. Das Problem wird nicht behoben.“

Über die Gründe für den Einbruch der Milchpreise ist viel diskutiert worden: übereifrige Landwirte, gierige Lebensmittelhändler, geizige Kunden oder ohnmächtige Politiker. „Es ist schwierig, einen Schuldigen auszumachen. Die Suppe ist groß, die jetzt ausgelöffelt werden muss“, sagt Erich Kemmner. Hauptproblem ist, dass es zu viel Milch auf dem Markt gibt, erklärt Heinrich Schüle, Studiendekan Agrarwirtschaft und Professor für Landwirtschaftliche Betriebslehre an der HfWU: „Es wird häufig der Fehler gemacht, die Ursachen für die Milchkrise nur in Deutschland zu suchen. Für die gestiegene Milcherzeugung ist jedoch vor allem die hohe Produktion in EU-Ländern wie den Niederlanden und Irland verantwortlich. In Deutschland wurden 2015 gerade einmal 0,3 Prozent mehr Milch hergestellt als im Vorjahr.“

Hinzu kommt, dass es für die Milch weniger Abnehmer gibt. Vor allem die Nachfrage aus dem Ausland ist stark zurückgegangen: „Ein wesentlicher Grund für den Einbruch ist die geringe Exportnachfrage.“ In China hatte man sich während der wirtschaftlich starken Jahre 2013 und 2014 mit reichlich Milchpulver eingedeckt. „Als Konsequenz des Russland-Embargos dürfen außerdem keine landwirtschaftlichen Produkte mehr nach Russland exportiert werden“, sagt Schüle.

Wurde der politische Konflikt zwischen der EU und Russland also auf dem Rücken der Bauern ausgetragen? „Als das Russland-Embargo verhängt wurde, hat man die Auswirkungen nicht bedacht, die die Agrarbranche jetzt tragen muss“, sagt Landwirt Kemmner. Wissenschaftler Schüle glaubt das nicht: „Die EU hat die Konsequenzen sicher kommen sehen und sie in Kauf genommen“, ist sich der Betriebswirt sicher: „Die Politik hat grundsätzlich das Recht, solche Entscheidungen zu treffen, und dann muss die Wirtschaft sich fügen.“

Steigt die Nachfrage nicht, muss also das Angebot gesenkt werden. Doch anstatt die Milchproduktion zu drosseln, melken Landwirte ihre Kühe fleißig weiter. Nach dem Wegfall der EU-Milchquote im vergangenen Jahr schraubten viele Landwirte die Produktion hoch. Schaufeln sich die Milchbauern also ihr eigenes Grab? „Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist es natürlich falsch, jetzt noch mehr Milch zu produzieren“, sagt der Hochschuldozent. Doch gerade kleinen und mittleren Betrieben bleibe häufig nichts anderes übrig, um bei sinkenden Milchpreisen ihr Familieneinkommen stabil zu halten.

Melken, um zu überleben - das versucht auch Familie Kemmner: „Der Markt ist offen, wer zuerst vom Gas geht, bleibt auf der Strecke.“ Agrarminister Schmidt hat sich bereits gegen eine staatliche Drosselung der Produktion durch eine Rückkehr zur Milchquote ausgesprochen. Auch Schüle hält eine neue Milchquote für den falschen Weg: „Letztlich ist jedes staatliche Eingreifen in den Markt negativ zu bewerten.“ Der Staat könne den Landwirten aber durchaus mit finanziellen Mitteln unter die Arme greifen, ohne dabei in den Markt einzugreifen: „Die Hilfsmittel sollten dazu benutzt werden, extreme Härten, die viele Betriebe aktuell erleiden, zu lindern. Dafür werden aber deutlich mehr als 100 Millionen Euro benötigt.“

Familie Kemmner fühlt sich von der Politik im Stich gelassen: „Als die Autoindustrie in der Klemme steckte, wurde mit der Abwrackprämie geholfen.“ Zum Verhängnis könnten den Milchbauern ausgerechnet die Investitionsförderungen werden, die seit Jahren von EU, Bund und Land gezahlt werden: „Die Agrarinvestitionsförderungen werden gezahlt, um entwicklungsfähige Landwirte dabei zu unterstützen, ihre Existenz zu sichern“, erklärt Schüle: „Man hat die Landwirte dazu ermutigt, Kredite aufzunehmen, um beispielsweise Ställe auszubauen. Diese Kredite müssen jetzt natürlich abbezahlt werden.“

Familie Kemmner hat zwar keine Stallbau-Subventionen erhalten, kennt allerdings die Verpflichtungen, die mit solchen Hilfen einhergehen. Erich Kemmner erhebt schwere Vorwürfe gegen die Politik: „Immer hieß es nur, man soll so viel wie möglich produzieren. Und jetzt haben wir die Misere.

Mit den Subventionen schaffe man „ein modernes Sklaventum“: „Wenn ein Landwirt Subventionen für den Stallbau in Anspruch nimmt, zum Beispiel für tiergerechte Haltung, ist er vertraglich verpflichtet, auf Jahre hinaus diese Produktion aufrechtzuerhalten, auch in der jetzigen Situation.“

Schüle ist sich allerdings sicher: „Die Politik alleine kann und wird die Probleme nicht lösen.“ Er sieht auch Molkereien, Einzelhandel und Landwirte in der Verantwortung, aktiv zu werden: „Beispielsweise müssen neue Exportmärkte erschlossen werden. Durch regionale Vermarktungskonzepte können höhere Preise im Einzelhandel erzielt werden, und durch stärkere Kooperation der Erzeuger müssen die Landwirte ihre Marktstellung verbessern. Hier sind vor allem die Verbände, allen voran der Bauernverband, gefragt.“