Einen atemberaubenden Blick hat, wer im oberen Teil des „Mü1“ steht. Für den Abstieg sollte man allerdings schwindelfrei sein: Nach der Kante geht es steil bergab. Fotos: Gramberg Quelle: Unbekannt

„Nirgendwo sonst kann man den Prozess von Anfang bis Ende begleiten und das Produkt genießen.“

Von Greta Gramberg

Ich schätze, es wird dieses Jahr zweieinhalb mal so viel“, freut sich Rolf Kopelke. Der Fachmann für Prozessoptimierung in der Automobilbranche spricht nicht von der Anzahl der Fahr zeuge, die Dank seiner Beratung noch zahlreicher vom Band fließen. Der 54-Jährige steht an diesem Morgen um 9.00 Uhr nicht im Anzug im Büro, sondern in legerer Kleidung zwischen Stuttgarter Weinreben hoch über dem Neckar. Von denen erwartet er sich einen Ertrag, der den des Vorjahres weit übersteigt.

In dem Weinberg zwischen Mühlhausen und Münster sind gut ein Dutzend Leute mit Gartenscheren zu Gange. Sie sind Gesellschafter oder Förderer der Gruppe „Steiler Zucker“, die zwei Weinberge bewirtschaftet - aber keiner ist professioneller Winzer. In der Liebe zu ökologischem Anbau und gutem Wein zu gutem Essen haben sich Biologen, Musiker, Bautechniker und Männer und Frauen anderer Professionen vor eineinhalb Jahren zusammengetan. Seither lernen sie, Wein zu machen.

Bei der Lese zeigt sich, dass der ein oder andere Anteilseigner noch etwas unsicher ist. „Es ist besser, wenn zwei Personen eine Reihe von beiden Seiten bearbeiten, um keine Traube zu vergessen“, sagt Maren Kopelke zu Beginn. Ihr Mann Rolf erklärt, was getan werden muss: Die Trauben werden abgeschnitten, von faulen und unreifen Beeren befreit und dann in Eimer geworfen. Immer wieder demonstriert er den Nebenmännern, was bleiben darf und was wegmuss.

Die Arbeit ist nicht einfach, zeitaufwändig und manchmal gefährlich. Ein Hobbyweingärtner rutscht aus, als er die schmalen Treppen mit einem Korb voller Weintrauben hinunterläuft. Glücklicherweise bleibt er unverletzt. Wer selbst den Weinberg von oben nach unten durchläuft, merkt, wie gewöhnungsbedürftig die Lese in dem steilen Hang ist. Es bedarf der Eingewöhnung, um sich einigermaßen schwindelfrei zu bewegen.

Die haben Rolf Kopelke und seine Frau Maren. Sie hatten einen der Weinberge, dessen höchstgelegene Reihen einen atemberaubenden Ausblick auf den Max-Eyth-See freigeben, neun Jahre lang alleine bewirtschaftet, bevor sie ihn Anfang 2015 an die Gesellschaft abgaben. Vorher hatten sie nichts mit Landwirtschaft zu tun, erzählt die 55-jährige Heilpädagogin Maren Kopelke. Doch die Idee überzeugte sie. „Nirgendwo sonst kann man den Prozess von Anfang bis Ende begleiten und das Produkt genießen“, sagt Rolf Kopelke, der für sein Hobby die Ausbildung zum Nebenerwerbswinzer gemacht hat.

Schließlich wurde es dem Paar zu viel. Über Slowfood, eine Organisation von Freunden guter, hochwertiger Lebensmittel, fanden die beiden Partner mit ähnlichen Zielen. „Mich hat das Gequatsche am Weinstammtisch, ohne dass die Leute selbst was gemacht haben, genervt“, sagt Gerhard Schiek, der die Gründung von „Steiler Zucker“ maßgeblich vorangetrieben hat. Der 65-Jährige hat noch einen eigenen Weinberg vor der Haustür. „Da ist alles einfacher, niemand schwätzt mir rein“, scherzt er, gibt dann aber zu, dass es in der Gruppe eben doch geiler sei. Zudem sind mit den neuen Leuten hilfreiche Experten gekommen, darunter ein Biologe, der sich mit ökologischem Anbau und Förderrichtlinien auskennt, sowie Marketing- und Bauerfahrene. Sogar ein Weinakademiker, der zahlreiche Kurse belegt und Weine aus der ganzen Welt probiert hat, gehört dazu.

Die Standards im „Steilen Zucker“ lehnen sich an die Schlagworte der Slowfood-Bewegung „gut, sauber, fair“ an. Angebaut wird unter anderem Cabernet Blanc, der Wein, der an diesem Morgen gelesen wird. Es ist eine pilzresistente Rebsorte, die wenig Spritzschutz braucht. Gespritzt wird nach Biorichtlinien, zum Beispiel Backpulver, Orangenöl und Kalk. Kunstdünger ist tabu. Stattdessen setzt die Truppe auf die Nährstoffversorgung des Bodens durch andere Pflanzen. So gibt es zwischen den Reben Pfirsichbäume und allerlei Kräuter, die, je nachdem wo man steht, intensiv duften.

An der Weinqualität wird stetig gefeilt. Dieses Jahr hat Rolf Kopelke besondere Schnitttechniken ausprobiert. Sie bringen, wie die Versuchsreihen zeigen, einen höheren Ertrag. Die Trauben sind lockerbeerig und wenig verrieselt, was so viel heißt wie: weniger Fäulnis und mehr ausgereifte Beeren. Nun wird im Labor getestet, ob aus ihnen ein schmackhafter Wein werden kann.

Für ein besseres Produkt sorgt auch der Zuwachs an Leuten, dank dem alles zeitnaher erledigt wird, sagt Rolf Kopelke. Und der Spaßfaktor sei größer. In einer fröhlichen Arbeitspause wird dann auch der eigene Wein ausgeschenkt, mit dem sich die Winzer auf eine Bierbank vor den Weinberg setzen. Sie verstehen sich - auch jenseits der Reben.

Was passiert im „Steilen Zucker“?

„Mü1“ und „Mü2“ heißen die beiden Weinberge, die die Winzerlaien der Gesellschaft „Steiler Zucker“ bewirtschaften. „Mü“ wegen der Lage zwischen den Stuttgarter Stadtteilen Münster und Mühlhausen. Angebaut werden die Rebsorten Cabernet Blanc, Cabertin und Lemberger. Ausgebaut wird der Wein vom Weingut Hans Bader in Kernen-Stetten. Außerdem macht die Gruppe Marmelade aus den Weinbergpfirsichen und mischt Meersalz mit den eigenen Kräutern.

Die hohen Standards machen den „Steilen Zucker“ zu einem Partner der Bewegung „Slowfood“, deren Deutschlandvorsitzende Förderin des Projektes ist. Zu den ökologischen und landschaftlichen Zielen des „Steilen Zuckers“ gehört auch der Erhalt der Trockenmauern.

Rund 60 Personen unterstützen das Projekt mit einem Jahresbeitrag von 150 Euro. Förderer erhalten dafür jährlich eine Flasche Wein, werden zum Fördererfest und Arbeitseinsätzen eingeladen.

Einmal im Jahr öffnet die Gruppe zu einem Fest im Spätsommer die Tore des „Mü2“. Neben ausgewählten Weinen gibt es selbst gemachtes Essen - bei dessen Zutaten selbstverständlich auf regionale Herkunft und faire Produktion geachtet wird. Außerdem sind Weinbergführungen möglich. Dieses Angebot hat schon einen Promi zum „Steilen Zucker“ gelockt: Vor kurzem war die Ehefrau des Ministerpräsidenten Gerlinde Kretschmann mit ihren Albvereinsdamen zu Gast.

Mehr Infos unter steiler-zucker.de