Zeichen der Verbundenheit: Geschenke von jüdischen Freunden sammelt Rainer Höß an diesem Band. Quelle: Unbekannt

Ob er persönliche Schuld empfindet? „Schuld nicht, aber Scham und Verantwortung“, sagt er. Rainer Höß findet den Begriff „Massenmord“ angebrachter als Shoa oder Holocaust. „Das verschleiert alles nur.“ Ein Schlüsselerlebnis ist der erste Besuch 2009 in Auschwitz. „Meine Mutter wollte unbedingt dort hin.“

Von Andreas Steidel

Am 13. April 1947 fand noch einmal eine Hinrichtung in Auschwitz statt. Es war der Kommandant selbst, der diesmal an der Reihe war. Zwischen dem ehemaligen Krematorium und seiner ehemaligen Villa baumelte Rudolf Höß am Galgen, nach dem er dort zuvor Millionen Menschen in den Tod geschickt hatte.

In der Familie wurde darüber fast nie gesprochen. Im Kriege gefallen sei der Großvater, hieß es nur lapidar, als der Enkel begann danach zu fragen. Nichts, aber auch gar nichts sollte das Andenken an Rudolf Höß besudeln, der stets ein liebevoller Familienvater gewesen war. Zugleich hatte er die größte Todesfabrik des Dritten Reiches organisiert. Auschwitz ist seither ein weltweites Synonym für den organisierten Massenmord.

Rainer Höß findet den Begriff „Massenmord“ viel angebrachter als Shoa oder Holocaust. „Das verschleiert alles nur“, sagt der 52-Jährige, der radikal mit seiner Familie gebrochen hat. Als er begann, in der Vergangenheit herumzuwühlen, nahmen ihm die anderen das übel. Alle, außer die Mutter, die selbst aus allen Wolken fiel, als sie begriff, wer ihr Schwiegervater eigentlich gewesen war.

Der Name Rudolf Höß ist nicht jedermann geläufig. Manche verwechseln ihn mit Rudolf Hess, der 1941 nach England floh und in Spandau 1987 starb. Als Rudolf Höß, der Kommandant, 1977 in einem Spielfilm von Götz George porträtiert wurde („Aus einem deutschen Leben“), da hieß er Franz Lang, der Name, unter dem er nach dem Krieg in Norddeutschland untergetaucht war.

Die Familie verschlug es später nach Württemberg. „Alte Nazi-Netzwerke“, sagt Rainer Höß, der selbst 1965 in Walheim (Landkreis Ludwigsburg) geboren wurde. Danach folgten das benachbarte Freudental, Maulbronn, Ludwigsburg, Calw-Heumaden, Althengstett (Landkreis Calw) und schließlich Weil der Stadt, wo er heute wohnt.

Als Hedwig Höß, die Großmutter, 1964 im Auschwitzprozess vernommen wird, gibt sie als Wohnort Ludwigsburg an. Privat spielt sie noch immer die Rolle der Grand-Dame, lässt sich vom ehemaligen Fahrer von Rudolf Höß auch nach dem Krieg noch als „Frau Kommandantin“ ansprechen, wie sich Rainer Höß erinnert.

Für den Enkel war es keine schöne Kindheit. Die Atmosphäre ist kühl, vor allem der Vater verprügelt ihn. Er rebelliert, schlägt zurück, kommt in ein Heim für schwer Erziehbare und gerät später in den Sumpf von Drogen und Alkohol. Nur an die Mutter hat er gute Erinnerungen und an manch nette Stunde im Kindergottesdienst, in den er geschickt wird.

Rainer Höß ist evangelisch getauft, wie seine Mutter. Der Großvater war katholisch. Als höherer SS-Offizier interessiert ihn die Kirche nicht mehr, doch tritt er auch nie aus. Drei Wochen vor seiner Hinrichtung legt er bei einem polnischen Jesuitenpater ein katholisches Glaubensbekenntnis ab und stirbt mit einem Gebet auf den Lippen.

Rainer Höß ist ein einsames Kind. Findet nur wenig Trost und wirklich glückliche Momente. Zu den Menschen, die gut zu ihm sind, gehört auch der ehemalige Fahrer des Kommandanten Rudolf Höß, Leo Heger. Heger wird Rainers Wahl-Großvater, ein naturverbundener alter Mann, der mit ihm durch Wald und Wiesen streift. Der Enkel liebt ihn, wie er nur wenige Menschen liebt.

Mit ihm kann er über alles reden. Über fast alles. Wenn es um die Schuld des Kommandanten geht, schweigt Leo. Schwärmt hingegen von der guten alten Zeit und vom Heldentum seines Chefs. Er himmelt Rudolf Höß ein Leben lang an und verherrlicht die Jahre vor 1945, also ob es das Grauen von Auschwitz nie gegeben hätte. „Er war ein liebenswerter Mensch,“ sagt Rainer Höß heute, „und ein Nazi bis ins Grab.“

Rainer Höß weiß lange nicht, wie er mit dieser Vergangenheit umgehen soll. Es zerreißt ihn innerlich beinahe. Das Einzige, was er weiß, ist, dass er einen ganz anderen Weg gehen will: Er verweigert den Wehrdienst, saugt alles in sich auf, was er über die Zeit in Erfahrung bringen kann, bewundert Niklas Frank, den Sohn des Generalgouverneurs in Polen, der mit seinen Nazi-Eltern gnadenlos öffentlich abrechnet.

Niklas Frank ist einer von denen, die ihm weiterhelfen. Ein anderer ist der inzwischen verstorbene Journalist Olaf Sinner-Schmedemann aus Calw, der selbst als NS-Lebensbornkind auf die Welt kam.

Ein weiteres Schlüsselerlebnis ist der erste Besuch 2009 in Auschwitz. „Meine Mutter wollte unbedingt dort hin“, sagt er, sehen, wo ihr Schwiegervater gewirkt hat. Die Reise wird zum Fiasko, der Name Höß, den in Deutschland nicht alle kennen, kennt in Polen offenbar jeder. Sie werden vom Staatschutz verfolgt, im Hotel abgewiesen, reisen nach wenigen Tagen wieder ab. „Die wussten ja nicht, was wir wollen, ob wir Alt-Nazis sind und ins rechte Lager gehören.“

Zum Wendepunkt wird ein Film, den der israelische Regisseur Chanoch Ze’evi mit Nachkommen der NS-Täter macht. Er trifft sich mit Rainer Höß in Auschwitz, arrangiert eine Begegnung mit Schülern aus Israel, die zu einem bewegenden und beklemmenden Erlebnis für alle Seiten wird. Als ihn ein Mädchen danach fragt, was er tun würde, wenn sein Großvater heute noch lebt, sagt er: „Ich würde ihn töten.“

Das haben ihm manche als Anbiederung vorgeworfen. Andere reden von Geschäftemacherei mit dem Nationalsozialismus, als er angeblich versucht, den Familiennachlass an die israelische Gedenkstätte Yad Vashem zu verkaufen. Tatsächlich überlässt er ihn dem Institut für Zeitgeschichte in München und macht sich an die Veröffentlichungen eines Buches.

„Das Erbe des Kommandanten“ heißt es. Höß schreibt mit Hilfe zweier Journalisten, die für den richtigen Umfang und den richtigen Tonfall sorgen. In diesem Buch schildert der Enkel ausführlich, wie Großvater und Großmutter mitsamt ihrer fünf Kinder in Auschwitz gelebt haben. Eine Villa mit Swimmingpool unweit der Gasöfen. Häftlinge als Personal, die liebevoll die Rosen schneiden, bevor sie in den Tod geschickt werden.

Es sind nicht zuletzt die farbigen Familienfotos, die das Bizarre der dortigen Lebenswelt sichtbar machen. Die Höß-Kinder mit Tretauto und Wasserrutsche, der Papa mit Anzug an der Kaffeetafel, die ganze Schizophrenie einer heilen Welt inmitten der größten Todesfabrik, die die Welt je gesehen hat. Rudolf Höß gehört nicht zu jener Kategorie sadistischer Triebtäter wie Amon Göth aus „Schindlers Liste“, der aus Spaß vom Balkon seiner Villa Häftlinge erschießt. Stets ist er korrekt, handelt nur auf Befehl. Beschreibt sich auch in seinen Aufzeichnungen im Gefängnis als einen Menschen, der nur seine Pflicht getan hat. Er wird die fatale Logik von Befehl und Gehorsam nie wirklich verstehen und in Frage stellen.

Den Enkel lässt das Thema nicht mehr los. Rainer Höß kehrt nach Auschwitz zurück und wird bald zu einem gefragten Gesprächspartner, den dort jeder kennt. Mit mehr als 170 Zeitzeugen tritt er in Kontakt, für Furore sorgt die Begegnung mit der Auschwitz-Überlebenden Eva Mozes-Kor, die ihn symbolisch zu ihrem Enkel erklärt und mit ihm 2014 in der Talkshow von Markus Lanz auftritt.

Einfach ist es für Rainer Höß dennoch nie geworden. „Ich bin unbequem“, sagt er, nicht alle wollen ihn als Gesprächspartner haben. Die Skepsis bleibt. Da, wo er redet, macht er allerdings viele gute Erfahrungen. Vor allem, wenn es Schülerinnen und Schüler sind, die genau zuhören.

Ansonsten ist sich Rainer Höß nicht ganz sicher, ob Deutschland wirklich dazu gelernt hat. Die AfD und ihre Erfolge, Pegida und die Pöbeleien, das alles sind Tendenzen, die ihm große Sorgen bereiten. Freude machen ihm jedoch seine Kinder und Enkel. Immer wieder mal eine Taufe und eine Konfirmation, ein reger Austausch und ein großes Interesse an dem, was damals war.

Ob er persönliche Schuld empfindet? „Schuld nicht, aber Scham und Verantwortung“, sagt er. Sein Ziel ist, dass der Name Höß eines Tages auch wieder für etwas anderes steht als für die Tötungsfabrik in Auschwitz, die der Großvater so selbstverständlich geleitet hat wie der gewissenhafte Manager eines mittelständischen Unternehmens irgendwo in Deutschland.

Rainer Höß (2013): Das Erbe des Kommandanten, Belleville Verlag, 20 Euro.