Am 8. Mai 1949 stimmte der Parlamentarische Rat dem Entwurf des Grundgesetzes zu. Foto: ullstein bild - dpa/dpa

Auf welchen Werten beruht das Grundgesetz? Wie unterscheidet es sich von der Verfassung der Weimarer Republik? Berücksicht es wirklich alle Bedürfnisse, die den Bürgern heute wichtig sind?

Dreh- und Angelpunkt des Grundgesetzes ist sein Artikel Nummer eins. Zu den aufschlussreichsten Details seiner Geschichte zählt die Frage, wie der Wortlaut sich bis zur Endfassung verändert hat.

Wie kam die Würde an erste Stelle?

Am Anfang stand ein ziemlich revolutionärer Satz: „Der Staat ist um des Menschen Willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Mit diesem Satz begann das Grundgesetz in seiner Urfassung. So hatte es der Verfassungskonvent, der im August 1948 auf der bayrischen Insel Herrenchiemsee getagt hat, in seinen Entwurf geschrieben. Ausgedacht hatte sich diesen revolutionären Satz der Sozialdemokrat Carlo Schmid, damals Justizminister in Württemberg-Hohenzollern. Es war ein Bekenntnis gegen den Obrigkeitsstaat. Mit diesem Einleitungssatz hätten die Verfasser der Verfassung „den Staat vom Sockel geholt und an seiner statt den Menschen draufgestellt“, schreibt Christian Bommarius in seiner bisher einzigartigen Biografie des Grundgesetzes.

Die Mitglieder des Parlamentarischen Rats, der das Grundgesetz in seine bis heute gültige Form brachte, ging noch einen Schritt weiter. Sie strichen den ersten Satz aus dem Entwurf und setzten den zweiten an die erste Stelle: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das klingt wie ein Protestruf gegen die Entwürdigung des Menschen in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Tyrannei. Der Auftakt zum Grundgesetz „mutet wie ein Mantra an“, schreibt der Rechtsphilosoph Günter Frankenberg. Die Würde des Menschen – nicht der Deutschen allein, sondern aller Menschen – wurde damit „erstmals an herausragender Stelle einer Verfassung zum verbindlichen Maßstab für das Handeln eines Staates erklärt“, so der Historiker Harbo Knoch.

Was heißt Würde?

Die „Würde der menschlichen Persönlichkeit“ brachte der Staatsrechtler Hans Nawiasky in die Beratungen des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee ein. Er hatte 1946 die Verfassung des Freistaats Bayern verfasst. 1948 stand auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu lesen: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Recht geboren.“ Als „Galionsfigur“ (Knoch) dieses Wertbegriffs gilt das Philosoph Immanuel Kant, der vor 300 Jahren in der ostpreußischen Stadt Königsberg zur Welt gekommen ist. Kant zufolge erwächst sittliches Handeln „aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt“.

Nach Kants Theorie hat Würde, „was über allen Preis erhaben ist“ und damit einen „unbedingten, unvergleichbaren Wert“ besitze. Würde sah er als spezifisch menschliche Eigenschaft an, die den Menschen „vor allen Geschöpfen adelt“. Es sei zudem die Pflicht der Menschen, „diese Würde der Menschheit nicht zu verleugnen“. Der Mensch dürfe „von keinem Menschen bloß als Mittel“ behandelt werden, „und darin besteht eben seine Würde“.

Theodor Heuss, erster Bundespräsident unserer Republik, nannte die Menschenwürde eine „nicht interpretierte These“. Was unter Würde zu verstehen sei, könne „der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte ethisch auffassen“. Würde habe „keine feststehende Bedeutung, aber vielfältige Verwendungsweisen“, schreibt der Rechtstheoretiker Frankenberg. Allerdings habe der Parlamentarische Rat „nicht bezweckt, Menschenwürde als Anspruch auf staatliche Fürsorge zu normieren“.

Ein vergessenes Grundrecht?

Das verweist auf ein Bedürfnis vieler Staatsbürger, von dem in der neuen Verfassung kaum die Rede ist: Sicherheit. Das rechtliche Fundament der zweiten deutschen Republik entstand in ziemlich unsicheren Zeiten. Dennoch war Sicherheit für die Verfasser des Grundgesetzes offenbar kein zentrales Thema. Der Begriff kommt im Stichwortverzeichnis der Protokolle des Parlamentarischen Rates gar nicht vor. „Höchstwert für uns ist die Freiheit und die Würde der menschlichen Persönlichkeit“, gab der CSU-Politiker Adolf Süderstern zu Protokoll. In der 1949 verabschiedeten Fassung des Grundgesetzes steht 36-mal das Wort Freiheit, aber nur dreimal Sicherheit (nach mehrmaligen Änderungen inzwischen sechsmal). Der Verfassungsrechtler Josef Isensee nannte die Sicherheit später einmal „ein vergessenes Grundrecht“.

Was ist anders als in Weimar?

In der Weimarer Reichsverfassung hatten die Grundrechte nachrangige Bedeutung. Sie standen dort nicht ganz am Anfang, sondern erst im zweiten Kapitel. Dort war auch von „Grundpflichten“ der Bürger die Rede. Das Regelwerk der ersten deutschen Demokratie unterschied sich in zwei wesentlichen Punkten von dem der zweiten: zum einen in der stärker plebiszitären Orientierung – deutschlandweite Volksbegehren und Volksentscheide waren ausdrücklich vorgesehen.

Besonders deutlich werden zudem die Unterschiede zwischen den Kompetenzen des Reichspräsidenten und der Rolle des Bundespräsidenten. In der Weimarer Republik wurde der Präsident vom Volk gewählt. Er hatte den Kanzler zu ernennen und konnte den Reichstag auflösen. Im Grundgesetz wurden die Rolle des Parlaments und die des Bundeskanzlers stark aufgewertet.