Der französische Friedhof von Douaumont Foto: dpa - dpa

Von Oliver Stortz

Stuttgart - 300 Tage, 300 Nächte. 700 000 Tote. Sechs Buchstaben. Verdun ist Synonym: Für die erste große politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Das Städtchen in Lothringen ist historischer Kriegsschauplatz und immerwährender Erinnerungsort.

Urlaubsdomizil will Verdun gewiss nicht sein. Reiseziel hingegen schon. Das Gedenkjahr 2016 markiert für die Stadt und das lothringische Maastal einen Umbruch im Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Vor 50 und auch noch vor 25 Jahren standen Zeitzeugen im Mittelpunkt der Erinnerung. Jetzt, hundert Jahre nach der Schlacht von Verdun, ist selbst die Generation der direkten Nachkommen hochbetagt - Zeitgeschichte wird Geschichte. Das spiegelt sich auch in einer zunehmend selbstbewussten touristischen Inszenierung der Kriegsthematik wider: Die bereits im 19. Jahrhundert erbaute unterirdische Zitadelle von Verdun, in der sich während der Schlacht von 1916 monatelang bis zu 2000 französische Soldaten verschanzten, ist seit kurzem multimedial erlebbar. In Elektrogondeln fahren jeweils bis zu neun Besucher durch das Tunnellabyrinth, an einem guten Dutzend Stationen veranschaulicht eine mehrsprachige Multimedia-Show das Leben im Untergrund. Dabei sind die Macher bemüht, den authentischen Ort nicht als Geisterbahn erscheinen zu lassen. Vielmehr stellen die durch lebensgroße Figuren und Filmeinspielungen inszenierten Episoden das kleine Absurde im großen Absurden heraus: den Kriegsalltag fern des Tageslichts, in dem polierte Stiefel und geschmuggelter Tabak mitunter dringlicher erscheinen als die militärische Strategie.

Erkennbar wird der Wandel der Erinnerungskultur auch im Mémorial de Verdun, einem mitten auf dem Schlachtfeld erbauten Weltkriegsmuseum, das nach monatelanger Umbauphase pünktlich zum 100. Jahrestag des Beginns der Schlacht am 21. Februar mit neuem Konzept und einer der europaweit modernsten historischen Ausstellungen auf zwei Etagen und einer Aussichtsplattform wiedereröffnet wurde. Die Schau erhebt den Anspruch, das regionale Kriegsgeschehen in den historisch-politischen Gesamtkontext einzuordnen, sie richtet sich an alle Altersgruppen, vor allem aber an Schulklassen.

Daneben sind es die authentischen Orte, die die gleichermaßen europäische wie lokale Katastrophe von 1916 begreifbar machen: Die Soldatenfriedhöfe mit ihren nicht enden wollenden Reihen von weißen und schwarzen Kreuzen, aber auch die Schützengräben, in denen sich die Soldaten beider Seiten mitunter nur wenige Meter voneinander entfernt gegenüber standen. Bis heute ist leicht zu unterscheiden, ob die Gänge im Wald von deutschen oder französischen Truppen angelegt wurden: Die deutschen Gräben sind größtenteils mit Beton und Mauerwerk verstärkt, die französischen lediglich mit Sandsäcken und Holzdielen abgestützt. Während die Deutschen ihr Vorrücken wortwörtlich manifestieren wollten, sollte die französische Symbolik des Provisoriums zum Ausdruck bringen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Gegner zurückgedrängt und die Verteidigungsanlage obsolet war.

Die Landschaft vor, zwischen und hinter den Schützengräben ist ein topografisches Mahnmal: Millionen Granaten - ihre Splitter liegen vielfach noch heute in der Erde - formten eine Kraterlandschaft, die bis heute prägend ist. Nur mühsam war sie nach dem Krieg wieder urbar zu machen. Statt der Landwirtschaft eroberte sich jedoch vielerorts die Natur die Hänge und Ebenen zurück. Waren im 19. Jahrhundert nur rund 30 Prozent der Fläche des Maastals um Verdun herum bewaldet, sind es heute mehr als 80 Prozent.

Daneben zeugen massive Wehranlagen vom Grand Guerre, dem Großen Krieg, wie die Franzosen den Ersten Weltkrieg nennen. Ein beeindruckendes - und besonders für Fotografen reizvolles - Besichtigungsziel ist Fort Douaumont. Die dreigeschossige, über dem Erdniveau auf einer Anhöhe errichtete Kasemattenanlage vermittelt den Eindruck eines Höhlensystems. Durch die vom Beschuss beschädigte meterdicke Deckschicht der Festung rieselt seit einem Jahrhundert Wasser. Kalk hat in weiten Teilen des Forts Tausende Stalaktiten gebildet, die ähnlich einer Tropfsteinhöhle von der Decke wachsen. In den Wehrtürmen befinden sich Drehlager aus Stahl, auf denen überirdisch Kanonenplattformen lagern.

Im Mai werden Frankreichs Präsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel Verdun besuchen. Die Hoffnungen in der strukturschwachen Region sind groß, auch wirtschaftlich davon profitieren zu können, 100 Jahre nach der Kriegstragödie Bühne gelebter europäischer Aussöhnung zu sein. Dabei ist es nicht die erste Begegnung zweier Staatenlenker auf den Schlachtfeldern: Das berühmte Foto, auf dem François Mitterand und Helmut Kohl sich 1984 an der Hand halten, entstand auf dem Vorplatz des Beinhauses von Douaumont, etwas außerhalb von Verdun.

Hollande und Merkel werden derweil auch das Stadtzentrum selbst besuchen. Das Maas-Ufer ist heute eine lebendige Promenade mit kleiner Marina und Wasserspielen. Ein ehemaliges Offizierskasino direkt am Fluss wurde in den vergangenen Monaten zum imposanten Vier-Sterne-Hotel „Les Jardins du Mess“ umgebaut. Verdun hat sich aufgemacht, über seinen blutigen Mythos hinauszuwachsen.

Millionen Granatsplitter wie diese liegen noch heute in der Erde.