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Obwohl er schon als Kind wusste, dass er sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt, lässt sich Christian R. von einer christlichen Gemeinde überzeugen, dass er „geheilt“ werden könne - so lange, bis er es selbst glaubt. Erst mit 61, nach 30 Jahren Ehe mit einer Frau und der Verleugnung seiner Identität, kommt er mit sich ins Reine und findet eine Balance zwischen Glaube und Homosexualität.

Von Lorena Greppo

Böblingen - Mit 61 Jahren konnte Christian R. zum zweiten Mal in seinem Leben von sich selbst sagen: Ich bin schwul und das akzeptiere ich so. Und das ist für ihn mit großer Erleichterung verbunden. Das erste Mal, dass er zu dieser Erkenntnis gelangte, war in seiner Jugend, mit 16. In all den Jahren dazwischen jedoch hat sich der Böblinger verleugnet. „Die Frage meines Lebens war immer: Wie bekomme ich meinen christlichen Glauben mit meiner Veranlagung unter einen Hut?“ Wirklich gelungen ist ihm das erst spät. In Fotoalben, die er mit persönlichen Anmerkungen versehen hat, versucht Christian R. seine Vergangenheit aufzuarbeiten.

Bereits im Vorschulalter hat Christian R. Männer gemocht. In seiner Erinnerung ist ein Junge aus der Nachbarschaft in Kassel noch sehr präsent, von dem er sich sehnlichst gewünscht hatte, ihm nahe zu sein. Nicht auf sexuelle Art und Weise, eher im Sinne einer Vaterfigur. „Ich war immer anders“, erinnert er sich. Nur sei Homosexualität in den 1950er- und 1960er-Jahren nie so reflektiert worden, wie es heute geschieht. „Das Wort 'schwul' habe ich nie in den Mund genommen“, sagt Christian R. Auch habe er keine Freunde gehabt, mit denen er darüber reden konnte, dass er sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlte. Erst nach nach dem Start seiner Ausbildung in Bad Hersfeld habe er die Szene bewusst gesucht. „Dort gab es auch Persönlichkeiten, die offen schwul waren, mit denen ich mich unterhalten konnte.“ Zu dieser Zeit führte Christian R. ein Doppelleben: Einerseits begann er, sein Schwulsein auszuleben und die Szene kennenzulernen, andererseits sagte er während seiner Ausbildung zum Krankenpfleger Kollegen nichts davon, weil die Ablehnung von Homosexualität so stark ausgeprägt war.

Vieles sollte sich ändern, als Christian R. 1972 den Weg in eine christliche Jugendgruppe fand. „Als ich mich dort outete, hieß es ganz klar: 'Es ist eine Sünde. So kannst du nicht weiterleben. Du musst aufhören. Gott gefällt das nicht.'“ Zu diesem Zeitpunkt war es für Christian R. unvorstellbar, aus der Schwulenszene rauszukommen, seine eigene Identität wieder zu verleugnen. Durch die Gemeinde sei es ihm dann aber doch gelungen. Man habe viel gemeinsam gebetet. „Dass ich die Kraft hatte, auszusteigen, wurde als Zeichen Gottes gewertet.“ Und so führte Christian R. ein „normales“ Leben, überzeugte sich sogar selbst davon, nicht schwul zu sein.

„Rückblickend muss ich sagen, dass ich trotzdem wohl glücklich war.“ In der christlichen Gemeinde wurde er quasi zur rechten Hand des Leiters, verbrachte viel Zeit auf Ibiza, wo ein Freizeitheim der Gemeinde gebaut wurde, und lernte im Missionswerk auch seine zukünftige Frau kennen. „Ich hatte immer wieder punktuell 'Anfechtungen', denn meine Identität war ja immer da, aber rückfällig bin ich nie geworden. Ich war fest davon überzeugt, geheilt zu sein“, sagt Christian R. In der Gemeinde hätte man über ihn Bescheid gewusst, es aber so akzeptiert.

Trotzdem wurde Christian R. das Leben in diesen fundamentalistisch anmutenden Kreisen zu viel. Er wollte ins „normale“ Leben zurück. Aus dem Missionswerk schied er aus - trotz der Sorgen des Leiters, er könne vom geistlichen Weg abkommen. 1980 heiratete Christian R. schließlich jene gläubige konservative Frau, die er über das Missionswerk kennengelernt hatte in einer evangelischen Freikirche. „Meine Frau hat von Anfang an gewusst, dass ich schwul war, aber ein neues Leben beginnen wollte.“ Beide seien davon überzeugt gewesen, Gott habe sie zusammen geführt. „Und so habe ich 30 Jahre lang ein gottgefälliges Leben mit Familie geführt“, blickt Christian R. zurück und schaut wehmütig aus.

Bereits auf der Hochzeitsreise habe er seiner Frau von seinen „Anfechtungen“ erzählt. Auch habe er stets Bäder oder ähnliche Einrichtungen gemieden, um Männer nicht leicht bekleidet zu sehen und in Versuchung zu geraten. „Das hat ihr Probleme bereitet“, ist er sich sicher. Es sei für sie sicherlich nicht einfach gewesen, zumal sie zu dieser Zeit erstmals schwanger wurde.

Nach der Geburt ihres ersten Sohnes kam beim Ehepaar R. der Gedanke auf, in die Mission zu gehen. „Wir wollten unser Leben Gott zur Verfügung stellen“, erklärt Christian R. Und so zog die junge Familie nach theologischer Ausbildung nach Israel. Christian R. genoss diese Zeit, in der er Andachten hielt oder den Garten pflegte. „Meiner Frau ging es nicht so gut. Sie war kränklich und hat sich immer mehr in diese seelische Belastung reingesteigert, mit einem schwulen Mann zu leben.“ Diese Sorgen habe er nicht nachvollziehen können. Er selbst habe sich nicht mehr als schwul betrachtet und sei in der Rolle des Familienvaters - kurz vor dem Umzug nach Israel kam der zweite Sohn des Paares zur Welt - aufgegangen. Nur gingen seine theologischen Ansichten und die der Mission auseinander. Als dann seine Ehefrau erneut schwanger wurde und ihr der Arzt zur Rückkehr nach Deutschland riet, zogen sie zurück nach Süddeutschland, wo sie innerhalb weniger Jahre dreimal den Wohnort wechselten. In diesen Jahren kamen die beiden Töchter des Paares zur Welt. „Durch die Kirchengemeinden haben wir immer wieder schnell Kontakte geknüpft“, erzählt Christian R. Dass sie so viele Kirchen und Gemeinden kennengelernt haben, sei aber „zum Leidwesen unserer Kinder“ geschehen.

Kurz vor der Jahrtausendwende sei auch seine Ehe langsam innerlich zerbrochen. Es habe bereits zuvor immer wieder Krisen gegeben, und das Paar habe das Gespräch mit Dritten gesucht. Mit dem zunehmenden Alter sei es dann immer schlimmer geworden. „Ich wollte darüber reden, wusste aber nie, was eigentlich das Problem war. Sie hat es nie ausgesprochen. Ich kann mir heute nur zusammenreimen, dass sie Probleme mit meiner Identität hatte.“ Christian R. sieht hilflos aus, zuckt mit den Achseln. Da seine Frau immer sehr fromm gewesen sei, vermutet er, dass der Gedanke an die Sünde ihres Mannes sie zermürbt hat. „Für sie muss dieses Thema irgendwann übergekocht sein.“

Aber auch für ihn selbst war die Zeit in der Ehe nur scheinbar glücklich. „Ich dachte immer, ich hätte alles - auch Liebe. Im Nachhinein habe ich erkannt, dass es nicht so war.“ Trotzdem versuchte Christian R., seine Ehe zu retten - mit allen Mitteln. „In den letzten zehn Jahren unserer Ehe gab es zunehmend Spannungen und Zoff“, blickt er zurück. 2009 schließlich holte das Paar den Leiter der Gemeinde ins Boot, zur der sie zu diesem Zeitpunkt gehörten, was sich anfangs gut anließ. Doch auch er stellte sich gegen Christian R., drohte ihm, dass Gott ihn töten werde, wenn er sich nicht ändert. Eine Situation, die ihn zerbrechen ließ. „Ich hatte keine Spannkraft mehr, ich war fertig“, erzählt er mit zittriger Stimme. Es kam dann so weit, dass seine Frau ihn verließ, von einem Tag auf den anderen. Und damit nicht genug - Bekannten und Verwandten habe sie erzählt, dass er pervers sei, sich an Kindern vergreife.

Christian R. muss innehalten. Ganz offensichtlich trifft ihn diese Abneigung seiner eigenen Frau, mit der er 30 Jahre zusammengelebt hat, noch immer tief. Kurz darauf nahm sich sein Sohn das Leben. Eine Welt brach für Christian R. zusammen. „Dass ich meine Arbeit bis dahin noch geschafft habe, ist mir heute kaum begreiflich.“

Christian R. öffnete sich einem Pastor, der mit ihm ab und zu in ein evangelisches Kloster ging. „Das hat mir gutgetan“, sagt er und schließt die Augen. Zudem begab er sich in Therapie. 2011 stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass er sich in einen Mann, einen Klosterbruder verliebt hatte. Zwar wurde daraus nicht mehr, doch für Christian R. war klar: Er musste sich seiner Homosexualität stellen.

Er informierte sich, las viel über Christsein als Homosexueller - und fand Frieden. „Für mich hat sich der Kreis geschlossen. Heute rede ich auch eher von Spiritualität als von Religion.“ Christian R. glaubt nicht mehr an einen Gott, der zu Hass aufruft. Seiner ist ein Gott der Liebe und Versöhnung. 2012 ist es dann so weit: Er lässt die Lüge los und outet sich.

Der frühere Freundeskreis bricht ihm völlig weg. Unter anderem bei der Metropolitan Community Church, einer protestantischen Freikirche, sowie in schwul-lesbischen Gruppen wie „Gay&Gray“ in Stuttgart findet er ein neues Umfeld. „Ich will nie wieder zurück“, erklärt Christian R. mit kraftvoller Stimme. Er lebt inzwischen mit seinem Lebenspartner in Böblingen.

Dass sich in der Gesellschaft viel getan hat, macht es ihm leichter, auch wenn er vorsichtig bleibt: „Man darf nicht alles auf einmal wollen, es gibt immer noch viel Versteckspiel beim Thema Homosexualität.“ Er selbst kann nun ganz natürlich leben - „Das kann ich nur jedem wünschen.“ Und wenn manche damit nicht zurechtkommen, „ist das deren Problem, nicht meins“. Dass er als homosexueller Christ glücklich sein kann, war für ihn lange unvorstellbar. Doch Christian R. hat sein Rezept gefunden: „Ich reflektiere nicht mehr so viel, sondern lebe einfach.“

Lorena Greppo . . . hat sich riesig gefreut, als sich ein guter Freund ihr gegenüber geoutet hat. Sie sieht das als großen Vertrauensbeweis.