Quelle: Unbekannt

Von Dagmar Weinberg

An einem kleinen Teich plätschert Wasser, im Foliengewächshaus gedeihen Tomaten und Gurken, in der gegenüberliegenden Ecke des Gartens haben zwei kuschlige Mümmelmänner in einer liebevoll eingerichteten Hasen-Villa ein Zuhause gefunden: Der idyllische Garten der Offenen Herberge ist ein Rückzugsort und wichtiger Fixpunkt im Leben der Bewohner des 1913 gebauten Hauses. Die neun Frauen und Männer der Hausgemeinschaft leiden an psychischen Erkrankungen und versuchen mithilfe der Ergotherapeutin Dagmar Oppenheimer und ihrem Team wieder zurück in den Alltag zu finden. „Manche unserer Bewohner sind schwer traumatisiert, leben sehr isoliert und trauen sich nicht rauszugehen“, erklärt Bärbel Nopper, Gründungsmitglied und heutige Vorsitzende des Vereins Offene Herberge, der das Haus in Oberesslingen 2002 gekauft hat. „Für die Bewohner ist der Garten natürlich ein großes Geschenk“ - zum Beispiel für jene Frau, die in ihrem bisherigen Leben wenig Vertrauen zu Menschen fassen konnte, in ihrem jetzigen Zuhause aber die Möglichkeit hat, sich um ihre Tiere zu kümmern. Neben dem Teich wächst ein prächtiger Ginkgobaum. Den hat Dagmar Oppenheimer einer Bewohnerin, „die sich und ihr Leben für wertlos hält“, zum Geburtstag geschenkt. „Dieser Baum tut ihr ungeheuer gut.“

Verantwortung übernehmen

Vor 17 Jahren haben sich Psychiatrie-Erfahrene zum Selbsthilfeverein Offene Herberge zusammengeschlossen. „Unsere Idee ist es, dass wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und sowohl für uns als auch für andere Betroffene Verantwortung übernehmen“, erklärt Bärbel Nopper. „Denn wir wollen ja nicht nur Hilfeempfänger sein.“ Aber auch Menschen ohne Psychiatrie-Erfahrung sind in dem Verein, der rund 110 Mitglieder zählt, willkommen. Neben der selbst verwalteten Kontakt- und Beratungsstelle Clubhaus in Bad Cannstatt ist der Verein, der seinen Sitz in Stuttgart hat, in Leonberg sowie in Oberesslingen Träger von ambulant betreuten Wohnhäusern. „Wir haben das Ziel, dass sich die Bewohner mit unserer Unterstützung soweit stabilisieren können, dass sie wieder aus dem Haus gehen und ihren Weg in die Zukunft in Angriff nehmen“, erklärt Dagmar Oppenheimer.

Alle Bewohner des Hauses sind ordentliche Mieter, zahlen die Miete an den Verein „und haben einen Betreuungsvertrag mit uns“, so die Ergotherapeutin. Um den Auftrag der Eingliederungshilfe leisten zu können, bekommt die Offene Herberge von den dafür verantwortlichen Stellen Betreuungsgelder. Die Zimmer in den drei Oberesslinger Wohnungen können nach eigenen Wünschen eingerichtet werden. Soweit möglich, organisieren die drei Wohngemeinschaften ihren Alltag selbst. Einmal in der Woche versammelt sich die Hausgemeinschaft im Gemeinschaftsraum unter dem Dach, der - wie andere Teile des Hauses - mit viel Engagement der Betreuer und Bewohner renoviert worden ist. Bei der Hausversammlung werden gemeinsame Unternehmungen wie Grillabende, Geburtstagsfeste oder Ausflüge besprochen. Und natürlich wird miteinander geredet. Denn Reden, so das Motto der Offenen Herberge, „ist Silber - Schweigen macht krank“.

Dass Bärbel Nopper für den Bereich Ambulant Betreutes Wohnen in Oberesslingen verantwortlich ist und neben einem Diplompsychologen eine Diplomsozialpädagogin mit Psychiatrieerfahrung zum Team gehört, empfindet Dagmar Oppenheimer als große Bereicherung. „Die ehemaligen Betroffenem haben ganz klar eine Vorbildfunktion für unsere Bewohner“, sagt die Ergotherapeutin. „Denn sie zeigen, dass man es schaffen kann. Und das ist etwas ganz anderes, als wenn ich den Bewohnern sage, dass es irgendwann auch mal wieder aufwärtsgeht.“ Zudem wissen alle am Tisch, wovon man redet. „Es gibt eine Art Seelenverwandtschaft“, sagt Bärbel Nopper. „Wir müssen uns untereinander nicht allzu viel erklären.“

Kritischer Blick auf die Psychiatrie

Der Verein ist aber nicht nur in der Beratung und Betreuung aktiv. Die Offene Herberge engagiert sich im gesellschaftspolitischen Bereich. „Wir lehnen die Psychiatrie zwar nicht grundsätzlich ab, beobachten sie aber kritisch“, erklärt Bärbel Nopper. Zudem geht es ihr darum, Menschen mit psychischen Erkrankungen aus der Stigmatisierung herauszuholen. „Es gibt immer noch sehr viele Vorurteile, vor allem wenn es um schwerere psychische Erkrankungen geht“, weiß Dagmar Oppenheimer. So engagiert sich der Verein dann auch in der Aufklärungsarbeit. „Je mehr die Allgemeinheit über psychische Erkrankungen weiß, desto weniger müssen sich die Betroffenen verstecken und desto eher kann man ihnen auch helfen.“

Mit der Diagnose einer psychischen Erkrankung ist oft der Verlust des Arbeitsplatzes verbunden. „Viele Psychiatrie-Erfahrene leben am Rande der Armutsgrenze“, berichtet Bärbel Nopper. Um ihnen eine Perspektive zu bieten, hat der Verein das Projekt „EX-IN“ gestartet, bei dem Psychiatrie-Erfahrene so qualifiziert werden, dass sie - natürlich gegen Bezahlung - im ambulant betreuten Wohnen oder in Tagesstätten als Genesungsbegleiter oder aber bei Tagungen, Seminaren und in Hochschulen als Dozentinnen und Dozenten arbeiten können.