Lew Jaschin Foto: dpa - dpa

Trotz des Auftaktsieges ist Russlands größter Fußballstar ein Torwart aus den 1960er Jahren. Was sagt das über den Zustand einer Sportnation? Die Spurensuche nach dem Nationalhelden

MoskauKeine Kreuze, ein zu einem Metallzaun geformtes Torwartnetz säumt das Grab von Lew Jaschin auf einem Friedhof im Nordwesten von Moskau. Wenige Blumen liegen auf dem Kunstrasen vor dem Grabstein. Darauf zu sehen und in Lebensgröße abgebildet ist der Mensch Jaschin als Torwart, die Handschuhe in der einen Hand, den Ball in der anderen. Nachdenklich schreitet er. Um ihn herum liegen die Gräber von Künstlern, Filmstars, alten Helden der Sowjetunion. Es sind Mausoleen einer Welt, die mit dem Ende des Kommunismus zu Ende ging und Russland fest in der Hand hat.

Fast kein Russe kann die Startaufstellung der aktuellen Sbornaja aufsagen, aber jedes Kind kennt Lew Jaschin. Straßen und Schulen sind nach dem legendären Torwart der UdSSR benannt. Sein Konterfei ziert die 100-Rubel-Note. Natürlich ist Jaschin auch das Gesicht des offiziellen WM-Plakates. Auf diesem fängt er mit einem Handschuh den Ball, der als Planet Erde dargestellt ist. Ganz so, als könnten nur der Geist und der Mythos Jaschins den Erfolg dieser WM garantieren.

Fußball und Eishockey

Galina Alexejewna schiebt die schwere Metalltür zu ihrer Wohnung auf. Sie ist hochgewachsen, trägt einen weißen Bademantel und hat tiefe Lachfalten um die Augen. Das Licht im Flur flackert, es riecht nach Farbe und Staub. „In diesem Haus ist unser Held Lew Jaschin geboren“, sagt die Rentnerin, so als habe sie gerade einen wichtigen Elfmeter gehalten. Vor ihrem Haus Nummer 15 in der Straße Ulitsa Millionaya steht ein Lada mit einem Aufkleber der Filmserie „Die Geisterjäger“. Gegenüber locken hippe italienische Restaurants. Hier trifft das Moskau früherer Tage auf die Zukunft.

Auf dem Bolzplatz unweit vom Haus Nummer 15 erlernt Jaschin in den Wirren der 1930er Jahre das Fußballspielen. Im Sommer pariert er Bälle, im Winter Pucks. Jeder hier kennt die Geschichte, dass Jaschin bis zu seinem 20. Lebensjahr sich nicht zwischen den Sportarten entscheiden konnte. Im Eishockey wird er Landes-Pokalsieger, sein Herz aber schlägt für den Fußball.

„Lew Jaschin war ein guter Nachbar, ganz sicher“, sagt Galina. Ein zurückhaltender, höflicher Mann. „Sovetskij Tschelowek“, ein sowjetischer Mensch. Offen, ehrlich. So waren die Leute damals. Nicht so wie heute, wo niemand dem anderen traut und alle nur das Schlimmste vom Leben erwarten.

Mit dem Fußballclub Dynamo Moskau wird Jaschin bereits zu Lebzeiten eine Legende. Journalisten reiben sich die Augen, Stürmer verzweifeln: Schwerelos wie ein Turner hechtet sich Jaschin in die Ecken, faustet wie ein Boxer die Bälle aus dem Strafraum und leitet wie ein Stratege mit präzisen Abschlägen Angriffe ein. Ein neuer Typ Torwart ist geboren. Auf allen Kontinenten eilt ihm der Ruf der unbezwingbaren „schwarzen Spinne“, der „schwarzen Krake“, des „schwarzen Panthers“ voraus, wie er wegen seines Outfits samt schwarzer Schiebermütze genannt wird.

„Spieler wie Jaschin fehlen“

Nach Erfolgen wie dem Gewinn der Europameisterschaft 1960 ziehen Jaschin und die Seinigen ins Restaurant Yar nahe dem Dynamo-Stadion. Große Gesten und Erzählungen ranken sich um das historische Erbe dieses Ortes zwischen seinen immer noch vergoldeten Decken und den schweren roten Teppichen. Legenden zufolge ließ der Prediger Rasputin hier Frauen auf den Tischen tanzen, Tschechov und praktisch die gesamte Sowjetelite frönten einem Luxusleben abseits des kargen Alltags. Der Wodka fließt auch in Massen, als das Jaschin-Dynamo seine großen Siege feiert. Es ist ein Leichtes, sich vorzustellen, wie Kettenraucher Lew Jaschin, der Scheue, in einer Ecke sitzend, eine Zigarette nach der anderen pafft. So gerne er seine Kameraden um sich hatte – lieber verbrachte er seine Zeit alleine beim Angeln.

„Spieler wie Jaschin fehlen“, sagt der Kellner Alexey, der mit seinen dicken Armen auch Bären erwürgen könnte, hinter den Tresen aber Tassen poliert. Fußballer in der Sowjetunion waren Bekanntheiten, aber sie waren nicht anders als normale Leute, so Alexey. Sie verdienten nicht viel und manche gingen auch einem anderen Job nach. Ein Besuch in einem Restaurant wie dem Yar war für sie purer Luxus, von der Politik genehmigt. Von diesen Abenden erzählten die Spieler ihren Enkelkindern. Heute dagegen jetten die Fußballstars nach Monaco und trinken den Champagner dort. „Russland ist für sie zu provinziell.“

Was würde der „Jahrhunderttorwart“, als den ihn die UEFA vor einigen Jahren auszeichnete, der einzige Torhüter, der den „Ballon d’Or“ jemals gewann, zur Lage des russischen Fußballs heute wohl sagen? „Er wäre stolz auf die Mannschaft“, sagt Alexey.

Als Jaschin mit 39 zu seiner letzten Partie aufläuft, hat er mehr als 400 Spiele, mehr als 150 gehaltene Elfmeter auf dem Buckel. Auf Fotos wirkt er in der kurzen Zeit danach wie ein alter Mann. Der lange Körper gebeugt, die Arme hängen abgekämpft auf der Seite. Es dauert nicht lange, da nehmen die Ärzte dem Raucher Jaschin ein Bein ab. Wenige Jahre später stirbt er mit 60 Jahren an Krebs. Auf dem Sterbebett überreicht ihm die Sowjetführung aber den wichtigsten Orden des Landes: Held der sozialistischen Arbeit. Als solchen feiert Russland Lew Jaschin noch heute.