Die Wände in Helga Drägers Wohnung hängen voller Medaillen. Quelle: Unbekannt

Helga Dräger geht erfolgreich durchs Leben. Die Leichtathletin der Turnerschaft Esslingen feiert ihren 80. Geburtstag.

EsslingenEierlikör oder Sekt?“ Helga Dräger ist in Feierlaune. Zum Anstoßen gibt es für die Athletin der Turnerschaft Esslingen viele Gründe: Die hunderte Medaillen, die die Flur- und Schlafzimmerwände in ihrer Wohnung in Wäldenbronn zieren, ihre Gesundheit, ihr 80. Geburtstag am heutigen Dienstag und das Leben an sich.

Helga Dräger ist so lebensfroh, dass es ansteckend ist. Sie sprüht vor Energie, lacht, springt während des Gesprächs immer wieder auf, um zu zeigen wie es geht, das Gehen. Oder „die Geherei“, wie sie es nennt. Denn darin ist Dräger weltweit eine der erfolgreichsten Athletinnen in ihrer Altersklasse.

In diesem Jahr wurde Dräger bereits deutsche Meisterin in der W 80 über 3000 Meter und 20 Kilometer Gehen. Zudem holte sie den Mannschaftstitel über 10 Kilometer Gehen bei der Senioren-WM in Polen in der Klasse W 75. Dazu kommen WLV-Rekorde im 5000-Meter-Bahn-Gehen sowie im 10 und 20 Kilometer Straßen-Gehen in den Altersklassen W 65 bis W 80. 2015 war eines ihrer erfolgreichsten Jahre: Sie wurde in Lyon dreifache Weltmeisterin über die 5-, 10- und 20 Kilometer-Distanz. Auch in diesem Jahr greift sie international wieder an: Die EM im September in Venedig ist das nächste große Ziel, im kommenden Jahr geht es zur WM nach Kanada.

Immer mit dabei: ihr Lebensgefährte Bruno Warzel. Die beiden lernten sich nach dem Tod ihrer jeweiligen Partner 2009 kennen (natürlich bei einer Sportveranstaltung) und sind seitdem ein eingespieltes Team. „Bruno“, ruft Helga Dräger. „Was bist du für mich? Mein Trainer, Betreuer, Antreiber, Fahrer, Motivator?“ Bruno Warzel, der Kaffee statt Sekt serviert, stimmt ihr lachend zu: „Alles.“ Zusammen machen sie Europa unsicher, fahren zu Drägers Wettbewerben und planen ihre Urlaube drumherum. Dräger will alle Wettkämpfe mitnehmen, auf der ganzen Welt. Das Paar hat Pläne für ein Jahr im Voraus, war in Italien, Polen, Frankreich, Australien. In Europa sind sie im Wohnmobil unterwegs, Bruno am Steuer. „Damit ich mich auf meinen Sport konzentrieren kann“, sagt Dräger.

Ihre größte Sorge, die bei ihrem perfekten Laufstil komplett unbegründet ist, lautet: „Ich möchte nicht rausfliegen“, sagt sie. „Wenn ich disqualifiziert werde, dann ist Bruno doch die ganze lange Strecke, zum Beispiel die 1000 Kilometer nach Polen, umsonst gefahren.“ Die Technik des Gehsport ist sehr kompliziert. Stimmt diese nicht, wird der Athlet nach drei Verwarnungen disqualifiziert.

Dräger, noch im Sportdress von ihrer Morgen-Runde, springt auf und geht über den kleinen Balkon mit dem fantastischen Blick über Esslingen: Sie setzt zuerst die Ferse auf, streckt die Knie durch, schiebt die Hüften nach vorne. „Bruno“, ruft sie wieder, „wie sieht die Geherei denn eigentlich aus? Ulkig? Seltsam?“ Die beiden lachen. Dräger gesteht, dass sie das Gehen selbst früher belächelt habe. „Aber es macht so viel Spaß“, weiß sie jetzt.

„Wenn sie einmal etwas angefangen hat, ist sie nicht mehr von davon wegzubringen“, sagt Bruno Warzel und schüttelt liebevoll den Kopf.

Dreimal die Woche geht Dräger eineinhalb Stunden ihre Runde über die Katharinenlinde, ebenfalls dreimal geht die fünffache Großmutter zum Krafttraining ins Fitnessstudio, dazu noch ins Line Dance. Vor Wettbewerben dreht sie ihre Bahnen im Georgii-Stadion. Sie ist bei jedem Wettbewerb erfolgreich.

Davon erfahren die Leser der Eßlinger Zeitung regelmäßig durch Siegmar Müller, den Leichtathletik-Abteilungsleiter der Turnerschaft Esslingen. Er berichtet so zuverlässig und vor allem dank Drägers Eifer regelmäßig, dass die kleinen Meldungen in der Sportredaktion nur noch „Siegmar-Müllers“ heißen.

Auch am Montag erreichte die EZ wieder einer der „Siegmar-Müllers“: Dräger war am vergangenen Samstag bei den deutschen Meisterschaften im Bahngehen der Senioren in Beeskow (Brandenburg) am Start. „Ein schönes vorgezogenes Geburtstagsgeschenk wäre es, die 5000 Meter unter 40 Minuten zu gehen“, hatte sie sich im Vorfeld gewünscht. Mit einer Zeit von 39:33,19 Minuten und dem dritten Meistertitel in diesem Jahr beschenkte Dräger sich selbst vorzeitig. „Das freut mich richtig“, sagt sie.

„Sport ist meine Berufung“, sagt Dräger, die als Sportlehrerin und Gymnastik-Übungsleiterin gearbeitet hat. Geboren wurde sie 1939 in Stargard/Pommern, flüchtete mit fünf Jahren auf die Insel Sylt. Dort lebte sie zehn Jahre lang, betrieb allerlei Wassersport, wie Surfen, Schwimmen und Wasserski.

Mit 16 Jahren kam sie nach Esslingen und trat 1959 der Turnerschaft Esslingen bei. Mit 40 Jahren begann sie mit dem Tennis. Anfang der 90er-Jahre kam die Leichtathletik dazu – aus Langeweile. „Ich musste auf der Tennisanlage warten, bis ein Platz frei wurde. Mir war langweilig, also bin ich in der Zeit in den Wald und laufen gegangen.“ Sie zuckt mit den Schultern und lacht: „Das machte so viel Spaß.“ Also lief Dräger – und zwar über sämtliche Distanzen von 1500 Metern bis hin zum Marathon.

Als 2004 die Knie nicht mehr mitmachen wollten (mittlerweile sind beide Gelenke sowie die Hüfte künstlich), brachte sie sich das Gehen selbst bei, ein Jahr lang, ohne Trainer. Bis ihr Stil so perfekt war, dass sie kein Gehrichter mehr verwarnte, dauerte es weitere fünf, sechs Jahre. „Witzig“, jetzt hat Dräger den Begriff. „Die Geherei ist witzig.“

So wie es zu Drägers Lebensfreude passt, wird ihr 80. Geburtstag nicht nur einmal gefeiert, sondern gleich viermal: Bei sich zuhause, mit mehr als 40 Leuten auswärts am Samstag, im Fitnessstudio und mit ihrer Geher-Familie.

Drägers Bewegungsdrang ist ungebremst: „Ich gehe, solange es mir Spaß macht. Ich bin so dankbar, dass ich dieses Alter erreichen durfte.“ Auf dass es lange so weitergeht. Darauf einen Eierlikör. Oder einen Sekt.