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Von Sigor Paesler

Hannover – Es war für viele Fußballfans eine lange Nacht in Hannover. Manch einer wird gestern ziemlich müde zur Arbeit erschienen sein, falls er sich nicht in weiser Voraussicht freigenommen hatte. „Nie mehr zweite Liga“, schallte es bis in die frühen Morgenstunden immer wieder durch die Nachtruhe der Innenstadt. Es waren Menschen in roten oder grünen 96-Trikots, die da sangen.

Auch einige Fans des VfB Stuttgart waren noch unterwegs. Sie sangen nicht. Viele von ihnen saßen im Zug in Richtung Heimat. Viele Daheimgebliebene gingen vermutlich früh ins Bett. Eigentlich hatten sie darüber nachgedacht, wie und wann sie die Mannschaft nach ihrer Rückkehr nach Stuttgart empfangen und mit ihnen den Wiederaufstieg in die Bundesliga feiern könnten. Wohlweislich hatten die Vereinsverantwortlichen vorher schon erklärt, es solle besser niemand zum Flughafen kommen, es sei nichts geplant. Die Warnung war im Nachhinein nicht nötig, der VfB hat in Hannover mit 0:1 verloren und muss die Aufstiegsfeier auf den kommenden Sonntag verschieben.

Bessere Ausgangsposition als vorher

Die Situation ist trotz der Niederlage ausgezeichnet. Vor dem Saisonfinale beträgt der Vorsprung auf Eintracht Braunschweig auf dem Relegationsplatz drei Punkte, dazu kommt ein um satte zehn Treffer besseres Torverhältnis. „Wir haben verloren und haben trotzdem eine bessere Ausgangslage als vorher“, sagte Trainer Hannes Wolf kopfschüttelnd. Das liegt aber nicht daran, dass der VfB etwa grandios gespielt und gewonnen hatte. Sondern daran, dass Konkurrent Eintracht Braunschweig mit 0:6 in Bielefeld unter die Räder gekommen war. Hätte die Eintracht wie von den allermeisten erwartet beim Abstiegskandidaten gewonnen, lägen vor dem letzten Spieltag nun drei Mannschaften punktgleich an der Spitze.

Darin liegt auch der große Stimmungsunterschied zu den Hannoveranern begründet, die gestern auch von der heimischen Presse gefeiert wurden. 96 hat punktgleich mit dem VfB „nur“ ein um sechs Treffer besseres Torverhältnis gegenüber dem niedersächsischen Erzrivalen. Aber die Hannoveraner haben sich die gute Ausgangslage vor dem Abschluss in Sandhausen in erster Linie selbst erarbeitet. Durch eine deutliche Leistungssteigerung unter dem neuen Trainer André Breitenreiter. Und durch einen Sieg gegen den Hauptkonkurrenten Stuttgart.

Bei 96 herrscht Selbstvertrauen pur nach dem Motto: „Das lassen wir uns jetzt nicht mehr nehmen.“ Beim VfB ist der Grat schmal. Die Protagonisten schwanken zwischen Vorfreude auf die sehr wahrscheinliche Aufstiegsfeier vor eigenem Publikum und fast schon Ernüchterung. Klar, das wird sich im Laufe der Woche in Richtung positive Anspannung verschieben. Und das ist auch richtig so.

Sportvorstand Jan Schindelmeiser aber steckte der Auftritt in Hannover noch in den Klamotten. „Es hat die Entschlossenheit gefehlt, der Mut, die Aggressivität in den Zweikämpfen“, zählte er mit verkniffener Miene die Defizite auf. Spricht so einer, der für die Bundesliga planen kann? Oder bereitet ihm die Leistung gerade im Hinblick auf das Oberhaus Sorgen? Der Gedanke verbietet sich ja fast in einer Situation, in der rund um die Mannschaft überlegt wird, mit welcher Sorte Schampus auf den Aufstieg angestoßen werden soll. Aber ist der Bedarf an Verstärkungen für die Bundesliga nicht doch größer als vermutet? VfB – zwischen Sekt und Selters.

Bei Hannover ist unter Breitenreiter eine Entwicklung in Richtung Erstliganiveau zu erkennen, vor allem in der Defensive. In neun der vergangenen zehn Spielen blieb die Mannschaft ohne Gegentor. Auch gegen den VfB. Top-Torjäger Simon Terodde machte trotz großem Engagement kaum einen Stich – im Oberhaus werden er und seine Kollegen häufiger auf Abwehrspieler treffen, die mindestens das Niveau von Hannovers Salif Sané haben. Wolf bereitet das nach eigener Aussage „überhaupt nicht“ Sorgen und vielleicht hat er damit ja recht.

Schwäche in der Defensive

Und die Abwehr? Sie wackelt immer wieder. Beim Gegentreffer hatte Hannovers Felix Klaus auch Glück, dass der Ball über den Pfosten ins Tor gelangte. „Wir hatten in dieser Saison auch schon Glück“, sagte VfB-Innenverteidiger Timo Baumgartl dazu. Aber davor hatte eine ganze Reihe von Fehlern erst dazu geführt, dass sich Klaus in Szene setzen konnte. Es gab noch mehr Situationen, in denen es in der Defensive nicht stimmte.

„Wir haben uns regeneriert in vielerlei Hinsicht. Wir haben die Grundlagen geschaffen, um in der Bundesliga eine gute Rolle zu spielen“, sagte VfB-Präsident Wolfgang Dietrich nach der Niederlage in der HDI-Arena. Er weiß aber auch, dass der Verein einen guten Teil des Geldes, das möglicherweise durch eine Ausgliederung der Profiabteilung in eine AG hereinkommt – die Mitglieder stimmen darüber am 1. Juni ab – direkt in den Kader fließen muss. Aber bekommt ein Aufsteiger die Spieler, die richtig weiterhelfen? Gleichzeitig ist es ja auch nicht so, dass die Mannschaft zu unrecht an der Zweitliga-Tabellenspitze steht und dass kein Entwicklungspotenzial im Kader steckt. Nach vielen Spielen bekam das Team zurecht Lob. Lauter Denksportaufgaben nun für Schindelmeiser und seine Mitstreiter.

Spieler und Trainer blicken nun auf den kommenden Sonntag. „Wir wollen den Fans was bieten und haben noch eine Rechnung mit Würzburg offen“, erklärte Mittelfeldspieler Matthias Zimmermann. Zum Abschluss der Hinrunde hatten die Niederlagen gegen Hannover und Würzburg für Katerstimmung gesorgt. „Wenn wir die beiden Spiele so verlieren wie in der Hinrunde, schaffen wir es nicht “, hatte Wolf in der vergangenen Woche gesagt. Da hatte er die Braunschweiger Niederlage nicht auf der Rechnung. So könnte sich der VfB gegen Würzburg möglicherweise sogar eine Niederlage leisten. Aber wer will so aufsteigen? Christian Gentner jedenfalls hatte bei aller sachlichen Selbstkritik keinerlei Lust, sich die Vorfreude nehmen zu lassen. „Wir haben eine tolle Saison gespielt. Da können wir die Hürde nehmen, noch eine Woche zu warten – dann gibt es Party ohne Ende“, sagte der Kapitän.

Vermutlich wird es für viele in Stuttgart am kommenden Sonntag eine lange Nacht werden. Dann geht es schnell an die Arbeit, damit die Gesänge der Fans wahr werden können. „Nie mehr zweite Liga.“ Vor dem Betriebsunfall vor einem Jahr war der Club zumindest 39 Jahre im Oberhaus.