VfB-Präsident Wolfgang Dietrich sieht das Unheil auf sich zukommen. Foto: dpa - dpa

Wolfgang Dietrich ist abgegangen – aber die Probleme beim VfB Stuttgart sind geblieben. Was der Club jetzt braucht ist eine Debatte über die fußballerische Ausrichtung und deren erfolgreiche Umsetzung. Unabhängig von Personen.

StuttgartAls die Sicherheitskräfte in ihren gelben Poloshirts, schwarzen Hosen und Stiefeln aufmarschierten, da war klar: Hier geht nichts mehr. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Securityleute in der Mercedes-Benz-Arena waren die Vorboten der schlechten Nachricht: Die Mitgliederversammlung des VfB Stuttgart wird abgebrochen. Wenige Minuten später verkündete Präsident Wolfgang Dietrich das Unfassbare. Mit fester Stimme, aber sichtlich gezeichnet von den Ereignissen in den sechs Stunden zuvor.

Anschließend stieg Dietrich vom Podium und eilte mit Präsidiums- und Vorstandsmitgliedern durch den schnell aufgebauten Spielertunnel in die Katakomben. Es wird eines der letzten Bilder sein, die von dem 70-jährigen Ex-Unternehmer als VfB-Präsident in Erinnerung bleiben. Er, geschützt durch Bodyguards, verschwindet. Zurück blieben 4000 wütende Mitglieder – und ein Riss im Verein, der durch die kräftigen und grimmig schauenden Männer zwischen Haupttribüne und Spielfeld dokumentiert wurde: Hier die Mitglieder, uneins über die Cheffrage ihres Lieblingsvereins. Dort die feinen Herren in ihren Clubanzügen, vereint in der Überzeugung, mit Dietrich weiter machen zu wollen.

Am nächsten Vormittag war dann durch Dietrichs Rücktritt plötzlich vieles anders. Der VfB steht jetzt ohne Präsident da. Doch mit Dietrich gehen nicht alle Probleme, und es ist anzunehmen, dass der Fußball-Zweitligist ein Club mitten in der Zerreißprobe bleibt. Unversöhnlich hatten sich die beiden Lager – für und gegen Dietrich – gegenüberstanden. Sie hatten sich vor der geplanten Abstimmung über die Abwahl Dietrichs die bekannten Argumente und Vorwürfe um die Ohren geschlagen. Bis es zur technischen Panne kam und aufgrund des nicht funktionierenden WLAN die Veranstaltung vorzeitig beendet wurde. Der VfB hatte keine andere Wahl. Es konnte einfach nicht per Handy abgestimmt werden.

Adrion stößt Debatte an

Wenn man so will, haben die Internetprobleme einen Systemabsturz verursacht, der Dietrichs Amtszeit nach knapp drei Jahren beendete. Bis dahin schien es so, als werde er zwar mächtig von den Mitgliedern abgewatscht, aber aufgrund des 75-Prozent-Quorums Präsident bleiben können. Nach der ersten Unterbrechung durch technische Schwierigkeiten vollzog sich jedoch ein Stimmungswandel. Plötzlich schien eine Demontage möglich. Das spürte auch Dietrich, der als Versammlungsleiter zudem unter dem Druck stand, für einen reibungslosen Ablauf sorgen zu wollen. Seine Reaktionen wurden ruppiger.

Doch jenseits aller Emotionalität und Personaldiskussionen hat die Mitgliederversammlung in einem Moment gezeigt, was der VfB eigentlich braucht, um sportlich erfolgreich zu sein. Eine Debatte über die fußballerische Ausrichtung und deren Umsetzung. Rainer Adrion stieß sie an. In einem bemerkenswerten Redebeitrag während der Aussprache. Der Ex-Trainer und Ex-Spieler des VfB kritisierte die mangelnde Sportkompetenz in den Führungsgremien – ohne Dietrich zu attackieren, für dessen Abwahl er auch nicht warb.

„Es geht mir darum, dass mehr Leute mit Sportkompetenz in Präsidium und Aufsichtsrat sitzen, damit sie letztlich die DNA des VfB festlegen“, sagt Adrion. Ein Trainer könne das nicht, da er stets zu kurz tätig sei. Ein Sportchef könne es in Stuttgart aber auch nicht, da auf diesem Posten keine Kontinuität herrsche. Weshalb Adrion schon auch anmerkte, dass es verwunderlich sei, dass die gleichen Vereinsgranden im Clubhaus mit dem roten Dach innerhalb weniger Monate ganz widersprüchliche Konzepte gutheißen und verabschieden würden.

Identität festlegen

Seit der Ära Bruno Labbadia/Fredi Bobic (bis 2013/2014) sind beim VfB reihenweise Trainer, Manager und Ideen verschließen worden. Adrion, der seit 40 Jahren VfB-Mitglied ist plädiert deshalb dafür, „eine starke Gruppe von kompetenten Leuten zusammenzustellen, die Thomas Hitzlsperger in seiner Arbeit als Sportvorstand unterstützt.“ Einen konkreten Vorschlag hat der 65-Jährige auch: „Sowohl das Präsidium als auch der Aufsichtsrat sollte um jeweils zwei Köpfe mit Fußballkompetenz erweitert werden.“

Der frühere Nachwuchschef selbst ist bereit, sein Fachwissen einzubringen. Allerdings hegt er keine Ambitionen, Präsident zu werden. Dieser Wunsch hatte sich schnell unter einem Teil der Mitglieder breit gemacht, nachdem Adrion seine fundierte Analyse vorgelegt hatte. Auch Vorstandsvorsitzender will der ehemalige U-21-Nationaltrainer nicht werden. „Da braucht es für den VfB jemanden mit großer Strahlkraft“, sagt Adrion. Unstrittig ist für ihn dagegen, dass dieser jemand aus dem Fußball kommen sollte. Verankert im aktuellen Tagesgeschäft. Denn noch immer geht es für Adrion darum, eine Identität festzulegen. „Für welche Spielidee steht der VfB überhaupt?“, fragt Adrion.

Bis zur Unkenntlichkeit wurde der Stil in den vergangenen Jahren verwässert. Und erst jetzt will Hitzlsperger mit Sportdirektor Sven Mislintat und Cheftrainer Tim Walter eine neue Spielphilosophie im Verein implantieren. Offensiv ausgerichtet soll sie sein und den Stuttgartern ein Profil geben. Ein Teil des Zukunftsprogramms ist das, wie Hitzlsperger immer wieder verdeutlicht.

Zu diesem soll bis Ende des Jahres auch der neue Vorstandsvorsitzende gehören – und nun ein neuer Präsident. Kandidatenvorschläge unterbreitet der Vereinsbeirat. Bis zu zwei. Wobei es nach der Entwicklung in den vergangenen Monaten die Frage ist, ob der VfB einen geeigneten Kandidaten findet, der den Riss im Verein kitten kann. Denn wer will sich einer solchen Hetze und Häme schon aussetzen, die Dietrich bei aller berechtigter Kritik an seiner Amtsführung ertragen musste?