Stuttgarts Ozan Kabak (links) mit Benjamin Pavard. Foto: dpa - dpa

Keine Ausstiegsklausel für die erste Liga

StuttgartSeiner eigenen Erzählung nach hatte Michael Reschke an jenem Dezemberabend schnell genug. Er war noch in Diensten des VfB Stuttgart unterwegs und saß im Stadion von Galatasaray Istanbul, um einen verheißungsvollen Spieler zu beobachten. Und schon nach einer Viertelstunde sah sich der Fußballfachmann in seinem Urteil auch auf internationalem Niveau bestätigt: Ozan Kabak war gut, sehr gut sogar für sein Alter – doch wie sollte er dieses Ausnahmetalent zum abstiegsbedrohten Bundesligisten lotsen? Also raunte Reschke seinem Nachbarn missmutig zu, sie könnten im Grunde wieder gehen, da ihr Unterfangen nahezu aussichtslos sei.

Der frühere VfB-Sportvorstand und Joachim Cast, der Manager Sportorganisation, sind dann doch sitzen geblieben, haben sich am Tag nach der Champions-League-Partie gegen den FC Porto mit Kabak getroffen und den Transfer einige Wochen später über die Bühne gebracht. Viel Kritik musste sich Reschke deshalb vor und nach seinem Rauswurf im Februar gefallen lassen. Von Alt-Internationalen wie Guido Buchwald, Hansi Müller und Maurizio Gaudino, aber ebenso von Fans. Sie wähnten den eigenen Nachwuchs blockiert, wenn ein 18-jähriger Abwehrspieler verpflichtet werde. Und überhaupt: der VfB benötige im Abstiegskampf doch einen weiteren Stürmer.

Jetzt hat sich der Wind auf dem Wasen einmal mehr gedreht. Denn Reschkes letzter Transfer könnte sich in zweifacher Hinsicht auszahlen. Sportlich, weil Kabak es auf Anhieb in die Stammelf der Stuttgarter geschafft hat. Und wirtschaftlich, weil der Marktwert des Profis innerhalb kurzer Zeit gestiegen ist. Elf Millionen Euro hat der VfB bezahlt und würde Kabak aktuell bei einem Angebot in doppelter Höhe kaum ziehen lassen. Es sei denn, die Stuttgarter müssten es, weil sie absteigen.

Ansonsten beinhaltet der Fünfeinhalbjahresvertrag keine Ausstiegsklausel. Zu heiß könnte sich die Aktie auf dem überhitzen Markt für Innenverteidiger entwickeln und frei verhandelbar wäre dann die Ablösesumme. Da winkt satter Profit, zumal sich Kabaks Länderspielkarriere anbahnt. Erstmals wurde er für die EM-Qualifikationsspiele gegen Albanien an diesem Freitag und gegen Moldawien am Montag in die türkische Nationalmannschaft berufen.

Sein Debüt im Trikot mit dem Halbmond scheint demnach nur noch eine Frage der Zeit, und so könnte Kabak für den VfB zum neuen Benjamin Pavard werden – ein Spieler, der für reichlich Geld jung und entwicklungsfähig aus dem Ausland geholt wird; der sich anschließend enorm verbessert und plötzlich auf dem Spielerbasar zum Objekt der Begierde wird. Gerade für europäische Spitzenclubs, da sie – wie Reschke – sehen, was der Spieler im Moment kann. Sie sehen vor allem aber, über welches Potenzial er verfügt.

Eine selbstverständliche Spieleröffnung, ein gutes Kopfballspiel, ein starkes Zweikampfverhalten bei guter Schnelligkeit – Kabak bietet mit seinem wuchtigen Körper und seiner ordentlichen Technik bereits jetzt vieles von dem, was Trainer von einem Innenverteidiger von Format fordern. Außergewöhnlich ist jedoch, die Ruhe, mit der er schon auftritt. Und dieses Paket an Fähigkeiten könnte Kabak bald noch begehrter machen, da sich sein Spiel so wunderbar auf die Zukunft hochrechnen lassen: Wenn der mit 18 schon so abgeklärt verteidigt, wie wird er erst mit 24 sein?

Keiner weiß es, da das Geschäft mit der fußballerischen Begabung ein Spekulationsgeschäft bleibt. Das ist das Risiko, das auch Reschke in einer ihm typischen Weise eingegangen ist: Kabak liebäugelte mit einem Wechsel in die Bundesliga, Galatasaray benötigte Geld – und Reschke eröffnete eine Perspektive. Allen anderen Verlockungen zum Trotz, denn die Premier-League-Clubs Manchester United und FC Chelsea führen Kabak bereits auf ihren Scoutinglisten. Auch Juventus Turin soll Interesse an dem Jungprofi haben, der Virgil van Dijk (FC Liverpool) und Raphaël Varane (Real Madrid) als seine Vorbilder nennt.

Der Karriereplan der Nachwuchskraft sieht jedoch vor, sich beim VfB zu etablieren, den Marktwert zu steigern und erst dann den Sprung zu einem Topverein zu wagen. Wie Pavard, der im Sommer zum FC Bayern geht. Allerdings gibt es einen feinen Unterschied zum Weltmeister: Im Vertrag des Franzosen wurde im Zuge einer vorzeitigen Verlängerung eine Ausstiegsklausel verankert – mit der festgeschriebenen Ablösesumme von 35 Millionen Euro, die auch im Falle des Abstiegs greift.

Den Klassenverbleib des VfB vorausgesetzt, soll nun Kabak in die gleiche Ablösekategorie vorstoßen, um auf oberster Ebene als Verstärkung wahrgenommen zu werden. Denn er will seinen Weg nicht als Talent gehen, dass dem englischen Geschäftsmodell entsprechend ständig verliehen wird. Läuft es allerdings nach Plan, ist davon auszugehen, dass der Türke zum Liebling der Spione avanciert. Dann werden sich immer wieder fremde Manager im Stuttgarter Stadion einfinden, um den Wert des Abwehrjuwels neu zu taxieren.