
ALTBACH/ESSLINGEN. Romantische Wanderfantasien verheißt der Ausstieg am Altbacher Bahnhof nicht. Schienenstränge, Kraftwerk, Verkehrslärm - Feld-, Wald- und Wiesenidyll scheint fern. Trotzdem wird es uns begegnen auf der Rundtour durch eine fragmentierte Landschaft, die Gegensätzlichstes konfrontiert: Industrie und gleich daneben ein paar Hektar Natur, die wie aus einer anderen Welt gezaubert scheinen. Unsere kleine Wanderung ist daher ein Spaziergang durch eine sehr zeitgenössische Lebenswelt mit ein paar zeitgeschichtlichen Rückblenden.

― Geschüttelt, nicht gerührt Falls wir mit der S-Bahn in Altbach ankommen, begeben wir uns auf dem Bahnsteig zum sogenannten People Mover. Der lupft uns hoch über die Oberleitung, schiebt uns drüber und drüben runter. James Bond hätte seine Freude dran, man wird geschüttelt, nicht gerührt; jedenfalls rührt uns der leichte Uringeruch nicht groß, mit dem einen das Kabineninnere umfängt. Außen folgen wir dem Fußweg an der Bahn Richtung Esslingen-Zell bis zur Unterführung, mit der wir wieder auf die andere Seite des Schienenstrangs rübermachen. Nach dem Tunnel rechts, und schon sind wir im Heinrich-Mayer-Park, benannt nach dem Gründer der Neckarwerke und errichtet auf der Fläche der Vorgängerbauten des heutigen Kraftwerks. Nach einer Staustufe verschwindet hier der Neckar-Altarm in einem unterirdischen Wehr, einem künstlichen Wasserfall. Einige Höhenmeter tiefer kommt er wieder raus. Sieht interessant aus. Riecht aber nach Waschmittel aus dem Flusswasser.

― Biotop und Biotod Wir durchqueren die künstliche Parknatur bis zum Eingang des Kraftwerks. Dort folgen wir rechts der Industriestraße, die in einigen Kurven ums Kraftwerksgelände herum führt. Vorbei am Abzweig zum Vereinsheim der Kleingärtner (am Wochenende geöffnet, über einen Wiesenweg zu erreichen) gelangen wir in ein kleines Industriegebiet, in dessen Zentrum wir nach rechts abbiegen. Geradeaus endet der Fahrweg nach wenigen Metern am kanalisierten Neckar-Hauptarm, gegenüber lärmt die B 10. Nach dem Abzweig nach rechts überqueren wir auf einer Brücke den Altarm des Flusses. Das graue Wasser liegt träge im Bett, das übliche grüne Dreiecksschild, von lauter Grün beinahe zugewachsen, weist darauf hin, dass wir uns in einem Naturschutzgebiet befinden. Die bisher durchwanderte Landschaft gleicht einer Collage aus Räumen und Zeiten: kultivierte Flusslandschaft, naturbelassenes Gesträuch, eine Allee wie bei Fontane, Industrie-Brutalismus, Biotop und Biotod. „Industrie ist die härteste Strafe Gottes“, ließ der Schriftsteller Joseph Roth 1924 eine Romanfigur sagen. Stimmt. Aber ohne Industrie wär's noch härter.
― Die Natur schlägt zurück Unmittelbar nach der Brücke biegen wir rechts ab auf einen schmalen Pfad am Wasser entlang. Nun beginnt ein kleiner Abenteuerabschnitt. Ein Gefühl von Amazonien kommt auf, die Vegetation wird dichter, und ausgerechnet wenn die Zivilisation in Gestalt neuerer Wohnbebauung wiederkehrt, schlägt die Natur am heftigsten zurück: Dornige Ranken überwuchern den Pfad, immerhin ausgewiesen als Teil des Esslinger Höhenwegs. Wir kämpfen uns durch und werden geritzt. Sobald es lichter wird, nehmen wir das Sackgassenschild ernst, biegen links in die Straße Am alten Neckar und durchqueren Esslingen-Zell, indem wir dem Straßenverlauf zunächst folgen, dann rechts der Körschstraße und nach wenigen Metern links der Robert-Koch-Straße bis zum Bahnhof, durch die Unterführung am Kreisverkehr vorbei in die Forststraße, dann rechts in die Kirchstraße. In der evangelischen Kirche sind im gotischen Chors Wandmalereien zu sehen. Wir schnaufen weiter am Friedhof vorbei die Straße hoch, verlassen das bebaute Gebiet, bis links das Neubaugebiet Egert beginnt und unmittelbar rechts an der Straẞe die Friedenslinde steht. Dort zweigen wir rechts ab in den asphaltierten Feldweg.
― Eine andere Welt Die Höhe, die Aussicht, die Streuobstwiesen-wir sind in einer anderen Welt, blicken erhaben herab auf die Schwemmland-Ebene des Neckartals, die ins Land gewucherten Städte und Gemeinden, die Industriezonen, die hohen Schornsteine des Kraftwerks, die wie rätselhafte Zeiger vor der imposanten Kulisse der Alb stehen. Viel zu früh, nämlich schon nach wenigen hundert Metern, zweigt unser Weg vor einem schönen, schattigen Spielplatz rechts ab. Es geht wieder hinunter nach Altbach, vorbei an der katholischen Kirche Zum heiligen Kreuz mit ihren abstrakten Glasfenstern und ihrem kuriosen Labyrinth auf dem Fußboden des quadratischen Gottesdienstraums. Über Hof, Berg- und Bachstraße erreichen wir den People Mover, der uns bei Bedarf zurück auf den Bahnsteig schüttelt.
― Kurz und bündig Die Streckenlänge beträt gut sechs Kilometer, der Höhenunterschied rund 100 Meter. Die Wege sind kinderwagentauglich und meist asphaltiert -mit Ausnahme des schmalen, teils zugewachsenen Pfads am Neckar-Altarm in Zell. Er lässt sich umgehen, indem man nach der Brücke geradeaus in die Zeppelinstraße geht, rechts in die Röntgen- und dann in die Steinbeisstraße abbiegt. Die Tour verlängert sich dadurch um einen Kilometer.
Weithin sichtbar
Dank der Schornsteine des Kraftwerks ist Altbach in der ganzen Region bis zum Albtrauf unübersehbar
ALTBACH. Ob solche Sichtbarkeit ein oder kein Problem ist, könnte Gegenstand hitziger Debatten sein. Jedenfalls gehört Altbach zuden „sichtbarsten“ Kommunen im ganzen Land dank der jeweils 250 Meter hohen Schornsteine der beiden Heizkraftwerk-Blöcke, die in absehbarer Zeit stillgelegt und durch ein neues Kraftwerk ersetzt werden sollen. Aber selbstverständlich besteht Altbach nicht nur aus den beiden Landschaftslangfingern, die wie Zeiger ins Panorama vom Albtrauf, von den Schurwaldhöhen oder von vielen anderen Punkten ragen. In erster Linie besteht eine Gemeinde aus den Menschen, die dort leben, und das sind im Falle Altbachs derzeit rund 6500 - mehr als zehn Mal so viel wie im Jahr 1871 nach der Gründung des deutschen Reichs, als nur 572 Menschen das damals noch weitgehend agrarisch geprägte Dorf bewohnten. Mit dem Bahnanschluss 1846 hatte allerdings auch die Industrialisierung bereits Einzug gehalten. Das Neckartal um Esslingen galt im Königreich Württemberg gar als Lokomotive des industriellen Fortschritts.
Altbach wurde 783 erstmals urkundlich erwähnt - nur sechs Jahre nach Esslingen. In jüngere Zeit war das Wachstum der Bevölkerung - wie in anderen Orten der Region - neben der Industrialisierung vor allem einem Faktor geschuldet: der Ansiedlung von Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Von 1662 Einwohnern im Jahr 1939 hatte sich die Zahl bis 1961 auf 4168 mehr als verdoppelt. Der Großteil der Zuzüge fällt in die 1950er Jahre. Seit den frühen 60er Jahren bis heute fiel das Einwohnerwachstum deutlich geringer aus, zeitweilig stagnierte es. mez/Martin Mezger
Zahl des Tages
Heute: Heizkraftwerk Altbach/Deizisau 250 Meter hoch sind die beiden höchsten Schornsteine der Blöcke 1 und 2 des Heizkraftwerks Altbach/Deizisau. Die Blöcke nahmen 1985 beziehungsweise 1997 den Betrieb auf. Vom Vorläuferkraftwerk blieb nur Block 4 von 1972 erhalten. Letztlich datiert der Kraftwerksbetrieb in Altbach auf 1899 zurück, als Heinrich Mayer dort eine „Kraftcentrale“ errichten ließ. Es war die Geburtsstunde der Neckarwerke. mez
Streckenführung
