Stuttgarter Waldfriedhof: Die Verwitterung schreitet voran. Foto: Oliver Willikonsky - Lichtgut - Oliver Willikonsky - Lichtgut

4500 Opfer der beiden Weltkriege liegen auf 24 der 42 Stuttgarter Friedhöfe. Mit einer neuen Konzeption will die Stadt Pflege und Erhaltung der Kriegsgräber verbessern.

StuttgartMehr als ein Jahrhundert und fast acht Jahrzehnte: So lange ist es her, dass zwei Weltkriege begonnen haben und im Laufe von vier beziehungsweise sechs Jahren eine unfassbare Zahl von Opfern gefordert haben – auch in Stuttgart. 4500 Opfer liegen auf 24 von den 42 Friedhöfen in der Landeshauptstadt: Soldaten, zivile Opfer der Bombenangriffe, Zwangsarbeiter und Euthanasie-Opfer. Dass seither so viel Zeit vergangen ist, bedeutet nicht, dass sie vergessen sind: Vor der Pietà, einer Skulptur des Stuttgarter Bildhauers Fritz von Grävenitz und Zentrum des 1923 von Paul Bonatz erbauten Ehrenhains auf dem Waldfriedhof, hat jemand Blumen in eine Blechdose gestellt. Ein liebevolles Zeichen des Gedenkens und ganz unabhängig von den offiziellen Feiern und Kranzniederlegungen durch die Stadt und den Bund Deutscher Kriegsgräberfürsorge zum Volkstrauertag im November.

„Diese Opfer der Kriege sind ganz und gar nicht vergessen, wir erleben nach wie vor Interesse und Erinnern der Bürger“, weiß auch Maurus Baldermann vom Garten-, Friedhofs- und Forstamt der Stadt Stuttgart, das für Erhalt und Pflege der Kriegsgräber verantwortlich ist. Naturgemäß lebten nicht mehr so viele Angehörige, aber es gebe immer noch Kinder und Enkel, die diese Ruhestätten ihrer Vorfahren aufsuchen, darunter auch Besucher aus dem Ausland mit Wurzeln im Schwäbischen. Und immer wieder melde sich jemand beim Amt, der mehr Sorgfalt bei der Pflege anmahnt, weil vielleicht Schrift und Namen nicht mehr deutlich zu lesen seien oder sich Moos auf dem Stein breitmacht. Wie Hubert Steimle aus Vaihingen: Der 90-Jährige besucht seit seiner Kindheit die Kriegsgräber auf dem Vaihinger Friedhof, denn in einem ruhen seine Mutter und seine Schwester, Agnes und Marta Steimle, die in der Bombennacht des 11. März 1943 ums Leben gekommen sind. Weil er den Eindruck hatte, die Stadt lasse die Kriegsgräberanlage immer mehr verwahrlosen, beschwerte sich Steimle im Friedhofsamt und beim damaligen Oberbürgermeister, Wolfgang Schuster.

40 000 Euro für Verkehrssicherheit

„Wir sind mit Herrn Steimle immer wieder im Gespräch“, bestätigt Maurus Baldermann. Dass Verbesserungen nötig sind, sieht auch Amtsleiter Volker Schirner: „Die Kriegsgräber sind uns ein großes und wichtiges Anliegen.“ Eine Neukonzeption für die Pflege mache jedoch erst einmal eine Zustands- und Schadenerfassung nötig. Der nächste Schritt sei dann ein Vorstoß für eine bessere finanzielle Ausstattung im Stuttgarter Gemeinderat. Kriegsgräber sind Denkmale, die nach dem Kriegsgräbergesetz von 1962 einheitlich, würdig, ästhetisch und pflegeleicht gestaltet sein müssen und nie verändert oder gar entfernt werden dürfen: „Sie sind eine Mahnung auf ewig“, so Baldermann. Für die Erhaltung aller 4500 Gräber gingen vom Land als sogenannte Ruherechtsentschädigung 90 000 Euro beim Amt ein, davon müssten aber etwa 40 000 Euro allein für die Verkehrssicherheit verwendet werden – damit niemand beispielsweise durch einen umfallenden Stein zu Schaden komme. Für die denkmalschützerische Pflege bleibe dann nicht mehr viel.

1914, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, wurde der Waldfriedhof mit der Kriegsgräberanlage eröffnet. „8500 junge Männer hat Stuttgart in diesem Krieg verloren, hier ruhen 1300“, berichtet Maurus Baldermann. Eines der ersten hier bestatteten Opfer sei tragischerweise der erstgeborene Sohn Rudolf von Albert Pantle, Hochbauamtsdirektor, Planer und Schöpfer des Waldfriedhofes, gewesen. Rudolf Pantle wurde im Familiengrab, gleich neben der Kriegsgräberanlage, beerdigt. Der Denkmalpflege bedarf freilich auch dieses besonders schön gestaltete Grabmal. Auf einem weiteren Feld sind 498 zivile Opfer der Bombenangriffe von 1943 und 1944 bestattet: „Ganze Hausgemeinschaften und Familien, wie die Inschriften verraten.“ Das Ausmaß der Schrecken des Krieges findet seine Fortsetzung auf dem 1918 eröffneten Hauptfriedhof, wo weitere 1800 zivile Bombenopfer sowie Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus Russland, Polen, der Ukraine, Frankreich und den Niederlanden liegen. Die Rumänen, weiß Baldermann, sind auf dem Pragfriedhof bestattet. Und dann zeugen noch die Gräber der Euthanasie-Opfer vom Terror des NS-Regimes. So viel Zeit kann gar nicht vergehen, sagt Maurus Baldermann, dass diese Opfer vergessen werden dürfen. Darum bleiben diese Gräber per Gesetz auf ewig erhalten. Und ihre Pflege und Erhaltung ist auch Baldermann ein besonderes und unverzichtbares Anliegen.

Unleserliche Namen

„Ich war entsetzt!“ Mit deutlichen Worten prangert Wilfried Krauss an, was ihn bei einem Besuch des Waldfriedhofs schockiert hat: Dass die Namen der 482 Opfer der Bombenangriffe auf Stuttgart auf den Grabsteinen kaum mehr zu entziffern seien. „Wenn man die Namen der Opfer nicht mehr lesen kann, ist auch die Erinnerung an sie ausgelöscht. Dann erst sind diese Menschen wirklich tot“, stellt Wilfried Krauss fest. Der 72-Jährige lebt in Ravensburg, war Geschichtslehrer am dortigen Welfen-gymnasium und sitzt seit 38 Jahren im Gemeinderat der Stadt. Die Erinnerungskultur, betont Krauss, sei ihm als Historiker ein großes Anliegen. Sowohl in seiner Funktion als Gemeinderat und erst recht als Pädagoge: „Friedhöfe“, sagt er, „sind für mich Lernorte, die uns vieles über die Vergangenheit erzählen können.“

Krauss belässt es nicht bei der Kritik:

„Ich weiß“, schreibt er, „die Stadt Stuttgart hat größere Probleme. Aber nach mehr als 70 Jahren wäre es doch angebracht, diese Grabsteine wieder leserlich zu machen. Das sind wir den Opfern schuldig.“ Dazu hat Krauss noch eine Anregung: „Auch eine erläuternde Hinweistafel an den Gräberfeldern der Toten des Ersten und Zweiten Weltkrieges wäre hilfreich.“