Erinnern an eine furchtbare Zeit: Franz Hirth, Heinz Hummler, Wolf Ritscher, Charlotte Isler und Henry Kandler (von links). Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth - Lichtgut/Achim Zweygarth

Gespräch mit Zeitzeugen im Lern- und Gedenkort Hotel Silber macht Geschichte lebendig – Saal zu klein für den Andrang der Zuhörer

StuttgartDen Namen Hotel Silber hörte Charlotte Isler vor zehn Jahren zum ersten Mal. „Was hätte ich als Kind mit der Polizei zu tun haben sollen? In meinem Elternhaus hat man, jedenfalls nicht vor mir, von der Gestapo gesprochen“, sagt die Stuttgarter Jüdin. Ihr Vater wurde am 10. November 1938, dem Morgen nach dem Reichspogrom, verhaftet, aber er kam nicht wie die meisten in die Verhör- und Folterzentrale der Gestapo in der Dorotheenstraße. Und durch glückliche Umstände bald wieder frei, sodass die Familie Nussbaum 1939 nach New York emigrieren konnte. Unweit davon lebt Charlotte Isler heute noch.

Jetzt sitzt die 94-Jährige auf dem Podium im gerade eröffneten Lern- und Gedenkort Hotel Silber: Als eine der Zeitzeugen neben Henry Kandler (89), ebenfalls aus New York, Heinz Hummler (86) und Franz Hirth (90), die davon berichten, wie der NS-Terror zerstörerisch in ihr Leben eingegriffen hat. Einfühlsam befragt von Wolf Ritscher, Diplom-Psychologe von der Hochschule für Sozialwesen in Esslingen. Und vor einem so zahlreichen Publikum, dass der Saal kaum ausreicht.

„Auf dem Podium sind 359 Lebensjahre versammelt“, sagt Harald Stingele, der Vorsitzende der Initiative, die gegen die drohenden Abrisspläne und für den Erhalt dieses Hauses als Lern- und Gedenkort gekämpft hat. Mit großer Unterstützung aus der Bürgerschaft. Und von Charlotte Isler. Als sie 2008 in Stuttgart war, nachdem die Initiative Stolperstein einen Stein für ihre in Theresienstadt umgekommene Großmutter verlegen ließ, lernte sie Stingele kennen, machte die Causa Hotel Silber zu ihrem ureigenen Anliegen und schrieb Briefe an politisch Verantwortliche. Obwohl sie glaubte, „es sei vergebliche Liebesmüh’“. Und jetzt „bin ich vom Erfolg ehrlich überrascht und sehr dankbar“. Der Einladung der Stadt zur Eröffnung wollte sie daher unbedingt Folge leisten, obwohl ihr die Ärzte nach einem Unfall und zehn Wochen Reha von der Reise abrieten.

„Höhle des Löwen“

Der 10. November 1938 ist auch Henry Kandler, damals Heinz Kahn, im Gedächtnis eingebrannt: „Großmutter rief an, dass der Großvater abgeholt worden sei.“ Daraufhin eilte der Vater ins Hotel Silber und bat, den Großvater frei zu lassen und stattdessen ihn zu verhaften. „Einen Wunsch kann ich erfüllen, Sie können auch gleich da bleiben“, sei die zynische Antwort gewesen. Beide seien nach Dachau gebracht worden. „Höhle des Löwen“ nannte Kandler in seinen Lebenserinnerungen das Hotel Silber. Er und sein Bruder kamen mit einen Kindertransport nach England, ehe es ebenfalls in New York ein Wiedersehen mit den Eltern gab. „Aber acht Familienmitglieder wurden ermordet“, erzählt er jetzt. Die Großmutter wurde in Auschwitz umgebracht, der Großvater in Theresienstadt: „Er war so ein interessanter Mann“, schildert der Enkel und erinnert sich an dessen großes Fernrohr sowie gemeinsame Beobachtungen des Sternenhimmels.

Franz Hirth, vor 90 Jahren in Stuttgart geboren, begegnet man gleich beim Eintreten ins Haus. Dort, wo einmal die Pförtnerloge war, sind zwei Fotos von ihm ausgestellt: Als zehnjähriger Pimpf der Hitlerjugend, und ein aktuelles Bild. Denn genau hier saß der Bub am 13. November 1939 stundenlang und wartete auf seinen Vater. Beide waren aus der Wohnung in der Lerchenstraße 52 geholt und hierher gebracht worden. „Ich wusste nicht warum und dachte, bei der Polizei hat alles seine Ordnung.“ Erst am späten Abend erinnerten sich die Beamten an den Buben und brachten ihn ins Kinderheim Türlenstraße. Warum, wieso, wo sind die Eltern? Die Verzweiflung des Kindes hört man heute noch aus Hirths Worten. Erst am 22. November sei ihm alles klar geworden: „Da habe ich im Radio gehört, dass man den Hitler-Attentäter vom 8. November im Münchner Bürgerbräu-Keller festgenommen hatte: Einen Schreiner namens Georg Elser. Elser war sein Onkel, der Bruder seiner Mutter Maria.

„Ein gewaltiger Schritt“

Die Tragödie endete nicht mit Elsers Hinrichtung am 9. April 1945 im KZ Dachau. „Elser wurde 50 Jahre lang in Deutschland totgeschwiegen und war auch in unserer Familie ein Tabu. Erst recht, nachdem der evangelische Theologe und Mithäftling Martin Niemöller die Meinung vertreten hatte, Elser habe als einfacher Schreiner die Bombe nicht allein bauen können und sei von der SS gedungen gewesen.“ Erst der Film von Klaus Maria Brandauer aus dem Jahr 1989 über Elser habe das Tabu gebrochen: „Es war für mich eine Befreiung.“

Tiefe Betroffenheit bei den Zuhörern lösen die bitteren Erinnerungen von Franz Hummler und seiner Schwester Lilo (80) aus. Ihr Vater wurde als Kommunist im September 1943 ins Hotel Silber gebracht, verhört, gefoltert und 1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. „Ermordet“, sagt Hummler. Der Brief mit der Bitte um Gnade, den der Elfjährige schrieb, hatte den Vater nicht retten können. Zu allem Leid von Mutter und Kindern kam die unvorstellbare Grausamkeit der Nachbarn: „Gott sei dank, jetzt isch endlich der Lilo ihr Vater köpft“, musste sich das sechsjährige Mädchen anhören. „Dieselben Nachbarn kamen 1946 und wollten, dass man ihnen ein gutes Zeugnis ausstellt: Sie seien doch immer gut zu uns gewesen“, empört sich die 80-jährige heute noch. „Mit diesem Haus ist ein gewaltiger Schritt in eine andere Richtung getan“, konstatiert Hummler versöhnlich. Und erlaubt sich freilich anschließend, ganz leise, die Frage: „Warum so spät?“

Stingele richtet dann den Blick in die Zukunft des Hauses mit einem Zitat von Ernst Bloch: „Nur solches Erinnern ist tauglich, das daran erinnert, was noch zu tun ist.“