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Volle Klassen und Personalmangel: Schulleiterin spricht von kaum leistbaren Anforderungen.

StuttgartHoher Krankenstand, viele Schüler: Die Lehrer an Realschulen sind am Limit – auch weil einige Jugendliche Nachholbedarf beim Sozialverhalten haben. Droht eine einst erfolgreiche Schulart gegen die Wand zu fahren? Stuttgarter Lehrer schlagen Alarm.

„Es brennen so viele Sachen, das schaffst du nicht“: Gestandene Realschullehrer erzählen, sie seien chronisch überlastet – so wie die ganze Schulart. Die Auswüchse davon zeigen sich nicht nur im Unterricht, dem viele Schüler nicht mehr folgen können, sondern auch auf dem Schulhof. Ein Beispiel: Ein Schüler schlägt einen anderen, der Lehrer geht dazwischen, sagt: „Das kannst du doch nicht machen.“ Der Schüler kontert: „Natürlich kann ich das machen. Merk dir meinen Namen. Ich bin Hakan.“ Konsequenzen? Fehlanzeige. „Viele Kollegen machen lieber die Ohren zu, es gibt einfach zu viele Baustellen“, sagen zwei Realschullehrer, die ihre Namen nicht in der Zeitung lesen wollen.

Grund für den Frust vieler Kollegen sei der neue Bildungsplan – „der verkennt total die Realitäten“. Das räumen, wenngleich in anderen Worten, auch die Geschäftsführende Schulleiterin Barbara Koterbicki und Schulamtsleiter Thomas Schenk gegenüber unserer Zeitung ein.

„Die Überlastung kommt auch im Schulamt an“, sagt Schenk. Heute besuchen Schüler aller Schularten und Leistungsniveaus die Realschule. In Stuttgart haben in den fünften Realschulklassen im Schnitt 54,9 Prozent eine Bildungsempfehlung für diese Schulart, 34 Prozent für die Haupt- oder Werkrealschule, 7,6 fürs Gymnasium, und 3,5 Prozent sind Inklusionsschüler mit Anspruch auf Sonderpädagogik. Man kann zwar inzwischen an der Realschule auch einen Hauptschulabschluss machen, aber das neue Realschulkonzept sieht seit dem Schuljahr 2017/18 vor, dass alle Fünft- und Sechstklässler in der 2016 eingeführten Orientierungsstufe auf Realschulniveau unterrichtet und benotet werden, dem mittleren Niveau. Aber: „Ein Großteil der Schüler entspricht dem M-Niveau nicht“, berichtet Koterbicki. „Damit wird man den Kindern zwei Jahre lang nicht gerecht.“

„Nivellierung nach unten“

Denn Sitzenbleiben nach Klasse fünf ist nicht vorgesehen, und eine Differenzierung für Hauptschüler auf Grundniveau gibt es erst ab der siebten Klasse. „Weshalb man erst ab Klasse sieben differenziert, ist für mich nicht nachvollziehbar“, sagt Kathrin Grix vom Stuttgarter Gesamtelternbeirat. Die Folgen schildern die zwei Realschullehrer, die mit dem Frust solcher Schüler umgehen müssen. Der äußere sich auch in Respektlosigkeit: „Viele Schüler müssten gar keinen Fachunterricht besuchen, sondern erst mal einfachstes Sozialverhalten lernen.“ Es sei „gar nicht dran zu denken, denen Mathe und Englisch beizubringen – es findet eine Nivellierung nach unten statt“. Koterbicki formuliert es zurückhaltender: „Das Miteinander muss in der Schule zunehmend geübt werden, nicht alle kriegen von zu Hause Unterstützung.“ Über die Zusammenarbeit mit den Eltern sagen die Realschullehrer, viele könnten kein Deutsch, hätten resigniert, manche seien dankbar fürs Gespräch.

Zum bunten Schülermix, zu dem auch psychisch auffällige Inklusionskinder zählen, kommen große Klassen. Insgesamt kämen „Anforderungen auf die Realschule zu, die kaum leistbar sind“, sagt Koterbicki, die in Stuttgart die Schlossrealschule leitet. Denn: „Es fehlt definitiv an Lehrern.“ Für Krankheitsfälle gebe es keinen Ersatz, das wirke sich auch im Pflichtunterricht aus. „Ich hatte noch nie so einen hohen Krankenstand wie dieses Schuljahr.“ Das sei wohl der permanenten Überlastung geschuldet und dem Gefühl, der ganzen Situation nicht gerecht werden zu können. Das betreffe besonders die engagierten Lehrer. „Man kann Schule nicht mehr gestalten, man wird gestaltet, von außen“, sagt sie.

Schüler hängen häufiger ab

Schenk bestätigt den höheren Krankenstand. Drei Schulen hätten Überlastungsanzeigen gemacht: eine Real-, eine Gemeinschafts- und eine Werkrealschule. Der Auslöser sei immer der gleiche: „Fehlende Ressourcen führen dazu, dass man pädagogisch nicht mehr so arbeiten kann, wie man möchte. Das führt dazu, dass Schüler abhängen und auffällig werden.“ Daraus resultierende Schul- und Unterrichtsausschlüsse seien „oft ein Thema“, so Schenk.

Doch was könnte den Realschulen aus der Patsche helfen? „Helfen würden kleinere Klassen und mehr Personal“, sagt Koterbicki. Dies fordert auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „25 Schüler pro Klasse sind genug“, so GEW-Sprecher Matthias Schneider. Denn die Realschule sei „die Schulart mit den größten Veränderungen“. Das habe vor allem mit der veränderten Schülerschaft zu tun. Der GEW-Kreisvorsitzende Erwin Berger sagt, Lehrer müssten zunehmend Erziehungsaufgaben übernehmen, würden beschimpft und bedroht, die Schulsozialarbeit reiche nicht aus. Fortbildungen zum Umgang mit heterogenen Klassen seien ausgebucht. Die Poolstunden seien ein Fortschritt, das allein reiche aber nicht, so Schneider. Auch Schenk findet, die Poolstunden würden „schon etwas nutzen, wenn wir sie besetzen können“. Aber: „Wir warten sehnsüchtig auf die Zeiten, in denen wir wieder genügend Lehrer kriegen, um die Schulen auskömmlich zu versorgen.“

Koterbicki regt an, noch einmal über das M-Niveau in Klasse fünf und sechs nachzudenken. Denn Schüler, die dem nicht gewachsen seien, bremsten andere aus. Man müsse „aufpassen, dass das Niveau nicht sinkt“. Und: „Ich kämpfe dafür, dass wir eine Realschule sind und dem auch weiterhin gerecht werden – das ist unser Auftrag.“ Die beiden Realschullehrer sind pessimistisch: „Der erste Schlag wird kommen, wenn diese Generation auf den Arbeitsmarkt kommt“ – vielleicht schon nach dem Ende des nächsten Schuljahres.