In der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg – hier die Synagoge in Stuttgart – erreicht der Machtkampf zwischen zwei Richtungen eine neue Eskalationsstufe. Foto: Archiv - Archiv

Der dreiköpfige Vorstand der jüdischen Gemeinde hat inzwischen mit einer Strafanzeige gegen Widerker auf die massiven Angriffe reagiert. Für Sonntag geplante Wahl wird verschoben.

StuttgartDer seit vielen Jahren immer wieder aufflammende Machtkampf in der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Ausgelöst hat diese Entwicklung der schon vor einigen Jahren aus der Repräsentanz abgewählte Martin Widerker. Anfang November, zwei Wochen vor der ursprünglich für diesen Sonntag angesetzten Neuwahl der Interessenvertretung der IRGW, hat der Stuttgarter Unternehmer in einem Schreiben an eine große Zahl von Gemeindemitgliedern dem jetzigen Vorstand schwerwiegende Verfehlungen vorgeworfen.

In dem Brief berichtet Widerker über die Ergebnisse einer „Prüfung“ der Gemeindefinanzen, die er, obwohl dies sein Recht als ehemaliges Mitglied der Repräsentanz sei, erst vor dem Schiedsgericht des Zentralrats der Juden in Deutschland (ZdJ) habe durchsetzen müssen. Widerker äußert den Verdacht, dass ihm „bestimmte Rechnungen möglicherweise auf Anweisung des Vorstands nicht vorgelegt werden sollten“. Manche Unterlagen habe er erst nach Reklamation erhalten.

Im Zentrum des Angriffs steht einmal mehr Susanne Jakubowski, mit ihr aber auch der gesamte dreiköpfige Vorstand der Repräsentanz. Die an der liberal-egalitären Richtung im Judentum orientierte Jakubowski sieht sich seit Jahren Attacken ausgesetzt. Diese wurden unter anderem von dem streng orthodoxen ehemaligen Landesrabbiner Natanel Wurmser geführt. Der im August in den Ruhestand verabschiedete Wurmser und die Gruppe um Widerker hatten vor einigen Jahren versucht, Jakubowski – deren Vater, nicht aber deren Mutter jüdischer Herkunft ist – über die Orthodoxe Rabbinerkonferenz das Jüdischsein abzusprechen. Die Allgemeine Rabbinerkonferenz aber gab der Angegriffenen Recht.

Nun wirft Widerker dem gesamten Gemeindevorstand vor, dieser habe in der „privaten Giur/Übertritt-Angelegenheit“ von Susanne Jakubowski sowohl Anwaltskosten als auch Reiseausgaben aus der Kasse der IRGW bezahlt, welche „von dieser persönlich zu tragen gewesen wären“. Widerker, der bis 2009 auch dem Vorstand angehörte, betont, er wolle dies alles den Gemeindemitgliedern „vor dieser wichtigen Wahl nicht vorenthalten“.

Der so massiv attackierte Vorstand hat gut eine Woche später auf die justiziablen Vorwürfe reagiert. Sprecherin Barbara Traub, Michael Kashi und Susanne Jakubowski haben per Anwalt Strafanzeige gegen Widerker gestellt wegen „Verleumdung, falscher Verdächtigung, Beleidigung und unberechtigter Verarbeitung von personenbezogenen Daten“. Widerker habe sich vor seiner Einsichtnahme in die Gemeindeunterlagen schriftlich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Nun habe er Informationen „sowohl an Gemeindemitglieder als auch an Vertreter der Politik und die Presse versandt“, schreibt der Anwalt. Auf Anfrage bestätigte Widerker, er habe das Schreiben an „die mir bekannten Adressen“ geschickt. Diese hat er vermutlich noch aus seiner Zeit als Mitglied der Repräsentanz.

Triebfeder für Widerkers Handeln, so der Text der Anzeige, sei „die Einflussnahme auf die freie Willensbildung der Wahlberechtigten“, um so „den Ablauf der Wahlen zu manipulieren“. Für dieses Ziel würden „Tatsachen verdreht und absichtlich Unwahrheiten vorgetragen“. So sei dem Unternehmer keineswegs das Einsichtsrecht in die Buchhaltung verwehrt worden. Widerker habe aber „völlig überzogene Forderungen gestellt“ und unter anderem mit Anwalt und Wirtschaftsprüfer kommen und eine unbegrenzte Zahl von Kopien erstellen wollen. Das Schiedsgericht des ZdJ habe „die Extra-Wünsche des Herrn Widerker zurückgewiesen“. Es treffe auch nicht zu, so der Anwalt, dass Rechnungen verschwunden seien. Besagte Schriftstücke seien aus Gründen der buchhalterischen Abgrenzung in einen Zeitraum verlagert worden, in den Widerker keine Einsicht habe nehmen können.

Der Vorstand der Gemeinde erklärt, dass „sämtliche Behauptungen“ Widerkers schon Gegenstand von juristischen Auseinandersetzungen vor dem Schiedsgericht des ZdJ gewesen seien. Dort sei Widerker „regelmäßig gescheitert“. Dennoch versuche er weiter, dem Vorstand mit „wissentlich unwahren Behauptungen zu schaden“. Dazu zähle auch die Unterstellung, „die IRGW hätte ‚private Klagen’ von Frau Jakubowski finanziert“. Martin Widerker verschweige „wohl wissentlich, dass es sich bei den in Rede stehenden und von ihm verursachten Verfahren um Angelegenheiten handelt, die Frau Jakubowski in ihrer Eigenschaft als Vorstandsmitglied der IRGW betrafen.

Im Zusammenhang mit dem Konflikt steht auch die Entscheidung, die für diesen Sonntag angesetzte Neuwahl der Repräsentanz zu verschieben. In einem Schreiben an die Mitglieder der IRGW erklären die Wahlvorstände, man habe sich zu dem Schritt entschlossen, weil ein Großteil der 22 Kandidatinnen und Kandidaten die Sorge geäußert hätten, dass die auf der Grundlage der Satzung von 1985 zu vollziehende Wahl keine ausreichende Sicherheit biete vor einer „Manipulation insbesondere der Stimmabgabe durch Briefwahl“. Dazu muss man wissen, dass das Schiedsgericht des Zentralrats auf Betreiben von Widerker erst im November 2017 die neue Satzung der IRGW von 2015 aus formalen Gründen für nichtig erklärt hat. Deshalb der vorgezogene Wahltermin, deshalb muss wieder nach der Satzung von 1985 gewählt werden. Die neue Satzung verlangt, anders als die alte, eine heute übliche, persönlich unterzeichnete Erklärung der Briefwähler, dass sie den Stimmzettel selbst ausgefüllt haben.

Die Sorge, dass es zu Manipulationen oder einer Wahlanfechtung aufgrund des Mangels kommen könnte, ist begründet. Nach der Wahl 2012 hieß es, einige Gemeindemitglieder hätten behauptet, sie hätten den äußeren Umschlag des Wahlbrief nicht selbst ausgefüllt. Beschwerdeführer vor dem ZdJ-Schiedsgericht war einmal mehr: Martin Widerker. Allerdings hatte er wieder keinen Erfolg. Er sei seiner Beweispflicht nicht nachgekommen, befand das Gericht.

Als neuer Wahltermin ist der 10. Februar 2019 anberaumt. Die IRGW hat derzeit rund 2800 Mitglieder, 75 Prozent leben in und um Stuttgart.