Quelle: Unbekannt

Schwangere denken – aus Angst, keine Wohnung zu finden – über Abtreibungen nach. So knapp ist in der Region der Wohnraum für Familien, sagt Rosemarie Daumüller, Geschäftsführerin des Landesfamilienrates.

StuttgartDie Geschäftsführerin des Landesfamilienrats erklärt im Gespräch mit unserer Zeitung, warum der Wohnraummangel Familien besonders trifft und wie Kinder zu einem Armutsrisiko geworden sind.

Frau Daumüller, stimmt es, dass Wohnen heute ein dominierendes Thema in der Beratung von Familien ist?
Ja, die Wohnungsnot trifft zwar alle Menschen, aber die Familien besonders hart. Denn ab drei Kindern ist es in Stuttgart und Umgebung für Familien fast schon unmöglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Für Alleinerziehende ist es noch deutlich schwieriger. Was sich aktuell am Wohnungsmarkt abspielt, ist unbeschreiblich, und die Aussage, dass Wohnen die neue soziale Frage ist, trifft meines Erachtens voll zu.

Wie wirkt sich die Wohnungsnot konkret auf das Leben der Betroffenen aus?
Wohnen ist ein ganz grundlegendes Bedürfnis. Wie Familien wohnen, hat Auswirkungen auf ihre Gesundheit, auf die Entwicklung und Lernfähigkeit von Kindern, auf die sozialen Kontakte und vieles andere mehr. Die Wohnsituation beeinflusst letztlich auch die Familienplanung. Die Sorge, keine geeignete Wohnung zu finden, führt im Zweifel dazu, dass Frauen keine oder weniger Kinder bekommen, und heißt leider auch, dass eine Schwangerschaft deshalb nicht ausgetragen wird.

Frauen denken über Abtreibung nach?
Aus der Schwangerenberatung wurde uns das in letzter Zeit wieder häufiger vermittelt. Die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, ist am Ende doch eine Frage des Vertrauens, ob und wie man in der Zukunft leben kann. Wenn die Betroffenen etwa in einem Wohnheim, einer WG oder in einer extrem kleinen Wohnung leben, kann die Not durch eine Schwangerschaft sehr schnell sehr groß werden. Und die Erfahrung zeigt, dass schwangere Frauen es besonders schwer haben, eine neue Wohnung zu finden. Für eine Stadt, die für sich in Anspruch nimmt, kinderfreundlich zu sein, ist das ein trauriger Befund.

Trifft der Wohnraummangel Familien tatsächlich härter als andere?
In gewisser Weise schon, denn es gilt eine einfache Regel: Familie bedeutet mehr Köpfe und damit mehr Platzbedarf, aber gleichzeitig weniger verfügbares Geld. Zudem sind Familien weniger flexibel als Kinderlose, wenn es auf Wohnungssuche geht.

Wieso weniger flexibel?
Weil es da viel mehr zu koordinieren gibt. Schon ein Umzug innerhalb der Stadt kann einen Wechsel von Schule oder Kindergarten bedeuten. Und wenn die Betreuung nicht gesichert ist, können Alleinerziehende gar nicht und auch Paarfamilien nur eingeschränkt arbeiten. Dabei braucht es heute mehr als ein Gehalt, um eine Miete in Stuttgart bezahlen zu können. Kurz gesagt: Damit der Alltag einer Familie funktioniert, müssen viele Zahnräder ineinandergreifen.

Was ist die Folge?
Familien mit geringem Einkommen müssen im Durchschnitt ein Drittel, viele sogar die Hälfte ihres Einkommens für die Miete aufwenden. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Wohnkosten bedeuten Kinder ein Armutsrisiko für Eltern. Viele Familien müssen in ungeeigneten Wohnungen ausharren, weil sie nichts anderes finden.

Kritiker werden sagen, es müssten nur die Ansprüche an die Wohnung zurückgeschraubt werden.
Es ist schon richtig, nach dem Krieg haben viele Menschen in sehr beengten Verhältnissen zusammenleben müssen, aber das ist heute nicht der Maßstab und sicher auch nicht wünschenswert. Beengte Wohnverhältnisse schaffen dauerhaft Druck und Frustration, begünstigen Gewalt und schränken die Entwicklung von Kindern ein. Kinder brauchen beispielsweise einen ruhigen Ort, um Hausaufgaben machen zu können. Auch der Zugang zu Grünflächen und Spielplätzen sowie ausreichend Räume, damit die Eltern ein eigenes Schlafzimmer haben, sind wichtig.

Kinder brauchen Platz, und trotzdem drängen Familien in die Enge der Stadt. Ist das nicht widersinnig?
Nein, das ist eine Frage des Angebots und der Versorgung. Die Dichte von Betreuungsplätzen, Kitas, Schulen, die ärztliche Versorgung speziell für Kinder, der gut ausgebaute öffentliche Nahverkehr und das kulturelle Angebot lassen sehr rasch nach, wenn sie den teuren Speckgürtel Stuttgarts einmal verlassen haben.

Und wie könnte die Lösung für das Wohnungsproblem aus Ihrer Sicht aussehen?
Der Landesfamilienrat Baden-Württemberg fordert einen Masterplan, um mehr bezahlbaren und familiengerechten Wohnraum zu schaffen. Dazu gehört der Neubau ebenso wie die kluge Nutzung und Sanierung des Wohnungsbestandes. Kommunen müssen ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen und mit Bauträgern zusammen sinnvolle Konzepte entwickeln. Wir müssen alle Optionen nutzen, intelligent nachverdichten und wo nötig auch neues Bauland erschließen. Nicht zuletzt müssen die individuellen Leistungen, wie etwa das Wohngeld, verbessert werden, um die Belastungen zu mildern. Nur einen Ansatz zu verfolgen wird sicher nicht ausreichen.

Das Interview führte Sven Hahn

Zur Person

Werdegang: Rosemarie Daumüller ist seit 2007 Geschäftsführerin des Landesfamilienrats Baden-Württemberg. Daumüller ist Diplomsozialpädagogin. Sie wurde am 5. Oktober 1958 geboren.

Verbandsarbeit: Der Landesfamilienrat Baden-Württemberg besteht seit 1981. Er ist ein Zusammenschluss von Verbänden und Organisationen, die in der Familienarbeit engagiert sind. Nach Aussage von Rosemarie Daumüller versteht sich der Verband als „Anwalt und Partner für die Interessen von Familien“.

Engagement: Angesichts der wachsenden Wohnungsnot im Südwesten ist der Verband Teil der Wohnraumallianz Baden-Württemberg.