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Die Stadt lehnt Ausnahmen vom Diesel-Fahrverbot für Konzertgänger ab und verweist auf den ÖPNV, der gut und sicher sei. Vier Betroffene aus der Region sehen das anders.

StuttgartDas Fahrverbot für ältere Dieselfahrzeuge gilt auch für Konzertbesucher. Das hat Stuttgarts Ordnungsbürgermeister Martin Schairer in einem Schreiben an Konzertveranstalter Michael Russ klargestellt. „Die Härtefallregelung im Luftreinhalteplan umfasst nicht die Freizeitgestaltung der Menschen“, so Schairer an Russ. Der Konzertveranstalter hatte von der Stadt, die 2018 zum wiederholten Mal zu Deutschlands Kulturhauptstadt Nummer eins gewählt worden war, Ausnahmen insbesondere für jene zumeist älteren Menschen gefordert, die im Umland von Stuttgart wohnen und regelmäßig klassische Konzerte in der Stuttgarter Liederhalle besuchen. Russ hat bereits rund 50 Abo-Kündigungen oder Beschwerden auf dem Tisch.

Erich und Frauke Scheurenbrand wohnen in Esslingen-Berkheim. An zehn Abenden im Jahr fahren sie in die Stuttgarter Liederhalle. Sie haben bei der Konzertagentur Russ die Konzertreihe „Meisterpianisten“ gebucht. Sie fährt einen Ford-C-Max Diesel (Euro 4), der bereits vom Fahrverbot für ältere Diesel betroffen ist. Er besitzt einen Mercedes 220 TDI (Euro 5), der wahrscheinlich von nächstem Jahr an nicht mehr in der Landeshauptstadt fahren darf. „Dann müssen wir die Klaviermiete aufgeben, so leid es uns tut“, sagt Erich Scheurenbrand. „Wir sind beide große Musikliebhaber, aber der Aufwand und die Unannehmlichkeiten wären zu groß.“ Mit dem Auto brauchen die Scheurenbrands zur Liederhalle 20 Minuten. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln dauere es anderthalb Stunden, sagt er. „Meine Frau ist 80, ich werde dieses Jahr 80 – da hat man nicht mehr Lust, sich Wind und Wetter auszusetzen“, sagt er. Vor allem die Heimreise sei das Problem. „Wenn das Konzert abends um 22 Uhr aus ist, wir aber erst um Mitternacht zu Hause sind, dann macht das keinen Spaß mehr.“ Und ein Taxi sei zu teuer. Letzter Ausweg wäre eine Hardware-Nachrüstung. „Die würde ich sogar selbst bezahlen, aber die bieten das bislang nicht an“, sagt er.

Richtung Göppingen orientieren

Betrogen fühlt sich auch Herr W., der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Auch er wohnt in Esslingen, ist Arzt im Ruhestand. Als er noch arbeitete, konnte er die besten Pianisten nur im Radio hören. Danach erfüllte er sich seinen Traum, hat seit ein paar Jahren für die Liederhalle eine Klaviermiete. W. fährt einen 350er Mercedes Diesel (Euro 5), vor sechseinhalb Jahren gekauft, auch aus ökologischen Gründen. Das Modell stoße besonders wenig Kohlendioxid aus, sagt er. Pech für W., dass es bei den Verboten um den Stickoxidausstoß geht. W. hält das sowie die von der EU festgelegten Grenzwerte für reine Willkür. „Es gibt keinerlei stichhaltigen Beweis dafür, dass die gemessenen Konzentrationen in der Luft gesundheitsschädlich sind“, sagt er.

Auch W. würde eine Hardware-Nachrüstung bezahlen. Sollte das nicht gehen, will er auf die Klaviermiete schweren Herzens verzichten. „Dann werden wir uns Richtung Göppingen orientieren“, sagt er. „Dort droht kein Fahrverbot, aber da tritt natürlich auch nicht die 1-a-Kategorie der Pianisten auf.“ W. befürchtet, dass einige so handeln und dass dann irgendwann keine Spitzenpianisten mehr in Stuttgart zu hören sein werden. Öffentliche Verkehrsmittel sind auch für ihn keine Option. Vor allem seine Frau wolle auf keinen Fall mit der S-Bahn ins Konzert. Zum einen dauere das deutlich länger. Zum anderen fühlten sie sich abends am Esslinger Bahnhof sowie in der S-Bahn nicht sicher – schon gar nicht in festlicher Kleidung.

Ursula Würth (77) lebt in Laichingen auf der Alb, ist aber in Stuttgart geboren und aufgewachsen. Die Verbindungen nach Stuttgart sind eng. Verwandte und Freunde leben dort, und eine Konzertmiete hat sie auch. Seit Januar darf sie mit ihrem Auto, einem BMW X3 (Euro 4), nicht mehr in die Landeshauptstadt fahren und ist darüber fassungslos. Erst vor sieben Jahren habe sie das Auto für fast 70 000 Euro gekauft, sagt sie. Es sei vom Staat zugelassen, und nun werde sie enteignet. Sie vermisst Hinweisschilder und Informationen. Wo sollen denn Leute wie sie am Stadtrand parken? Natürlich kennt sie das Parkhaus an der Albstraße in Degerloch, aber wenn das voll ist, was dann? Kündigen will sie ihr Konzert-Abo erst einmal nicht, aber nun muss sie zwei Stunden einplanen für den Weg nach Stuttgart. Bislang war es eine. Nach dem Konzert ist sie auch gerne noch was essen gegangen, hat Geld liegen lassen, wie sie sagt. Das geht jetzt nicht mehr. Sie muss schauen, dass sie die letzte Stadtbahn kriegt.

Elmar Woll und seine Frau sind 77 Jahre alt. Wenn sie von Böblingen nach Stuttgart ins Konzert fahren, nehmen sie eine 88-jährige Dame mit, die in ihrem Haus wohnt. Seit 30 Jahren haben sie ein Konzert-Abo über die Stuttgarter Kulturgemeinschaft, gehen auch noch zwei- oder dreimal im Jahr in die Oper, aber mit Wolls VW-Limousine (Euro 4), Baujahr 2005, dürfen sie nun nicht mehr fahren. Mit dem ÖPNV dauere es aber anderthalb Stunden, sagt Woll. Außerdem seien sie nicht mehr so gut zu Fuß. Eigentlich wolle man das Abo nicht kündigen, meint er. Vielleicht versuche man es die nächsten Monate tatsächlich mal mit dem ÖPNV. Warum die Stadt keine Ausnahme macht, versteht er nicht. „Wir fahren ja abends, also nicht, wenn die anderen Stinker unterwegs sind.“