Foto: Lichtgut/Max Kovalenko - Lichtgut/Max Kovalenko

Ein Verein aus Stuttgart will in einem Garten an der Weinsteige eine bessere Welt erschaffen. Doch das Schicksal spielt nicht mit. So kommt letztlich alles ganz anders als geplant.

StuttgartWer eine andere Sicht auf die Welt erhaschen will, kann beim US-Unternehmen Virgin Galactic für eine viertel Million Dollar einen Trip ins All buchen. Günstiger ist eine Fahrt mit der Stuttgarter Stadtbahn bis zur Haltestelle Weinsteige. Dann muss man nur noch die vor sich hin lärmende B 27 überwinden und ein bunt bemaltes Gartentor öffnen. Und schon scheint man nicht mehr im Hier und Jetzt zu sein, sondern in einer Landkommune Mitte der 1960er Jahre. Ein Hippie, schrieb der amerikanische Dichter Allen Ginsberg seinerzeit, sei jemand, der „nicht nur dem Leistungsdruck der Gesellschaft entfliehen, sondern zugleich neue, menschlichere Lebensweisen finden will“.

Im Sommer 2013 beschließen ein paar moderne Großstadt-Hippies, ein verwildertes Hanggrundstück unterhalb der Neuen Weinsteige in eine 3500 Quadratmeter große Kreativzone zu verwandeln. El Palito – auf Schwäbisch: des Stöckle – soll ein Ort sein, an dem die Herkunft und die soziale Schicht keine Rolle spielen. Ein Ort, an dem eine Subkultur ungestört gedeihen kann. „Menschen und Pflanzen verbindet, dass sie einen passenden Platz brauchen, um wachsen zu können“, sagt Faysal Bouhouch, 41 Jahre alt, von Beruf Klempner, in seiner Freizeit Philosoph und Kleingärtner.

Rasch entwickelt sich El Palito zu einem alternativen Treffpunkt in bester Stuttgarter Halbhöhenlage. Zu einem Abenteuerspielplatz für all jene, die den Sinn des Lebens nicht darin sehen, möglichst viel zu besitzen, sondern darin, möglichst viel zu erfahren. Eine argentinische Einwanderin bietet Spanisch-Kurse an, eine Gesundheitstrainerin einen Turn-Workshop, und ein Kunststudent zeigt, wie man mit Zwiebelschalen Stoffe färbt. Es wird gemeinsam gekocht und getrunken, gesungen und gespielt. Kinder freuen sich über die beiden Schaukeln, Obdachlose über das Trampolin, auf dem sie bequem übernachten können.

Auch die Polizei schaut immer wieder vorbei. Sei es, weil sich Nachbarn über den Lärm beschwert haben, sei es, weil die El-Palito-Verantwortlichen einen verdrehten Besucher loswerden wollen, der ausländische Gäste als Kanaken beschimpft. Wie soll man an dem Ideal festhalten, dass niemand ausgegrenzt werden darf, wenn jemand andere diskriminiert? Solche Fragen, auf die es keine befriedigenden Antworten gibt, beschäftigen die El Palitos mit der Zeit immer häufiger.

In dem Gemeinschaftsgarten wuchern die zwischenmenschlichen Probleme wie Brombeerbüsche. Gerne bedienen sich die Gäste an dem kostenlosen Essen, doch nur wenige werfen ein paar Münzen in das Spendenglas. Dabei verlangt der Grundstückseigentümer 350 Euro Monatsmiete, hinzu kommen die Kosten für Versicherung und Wasser. Vieles bezahlen die Vereinsmitglieder aus ihren eigenen, mager gefüllten Taschen. Und wie wird es ihnen gedankt? Nachts, im Anschluss an ein Konzert, kackt ein Unbekannter in die Küche statt ins Plumpsklo. Das ist zwar eklig, aber noch kein Drama.

Doch dann, im Oktober 2016, passiert etwas Furchtbares. Kurz vor Sonnenuntergang zündet ein Vereinsmitglied auf der Terrasse am Hang eine Mischung von getrocknetem Kuhdung, Vollkornreis und gereinigter Butter an. Das vedische Feuerritual soll eine heilende Wirkung entfalten – stattdessen wird eine junge Frau von den Flammen erfasst. Sie überlebt nur knapp, schwer gezeichnet für ihr restliches Leben. Die Katastrophe stürzt den jungen Verein in eine Krise. Stundenlang debattieren sich die gerade einmal dreizehn Mitglieder ihre Köpfe heiß. Am Ende der aufreibenden Streiterei einigen sie sich auf die Parole: So darf unser Traum von einem besseren Miteinander nicht enden!

Tanz, Teilen, Yoga, Kunst, Performance, Vorträge und ein Kinderprogramm verspricht ein grün-gelbes Blümchenplakat, das im Mai 2018 die Wände von Stuttgarter Szenekneipen ziert: El Palito lädt zum Open-Air-Festival ein. Hunderte strömen am Pfingstsamstag in den Gemeinschaftsgarten. Barfüßige Menschen wiegen sich zu den südamerikanischen Rhythmen der Band La César Pavón Orkestas. Es gibt vegane Gerichte aus selbst angebautem oder gespendetem Obst und Gemüse, dazu Bio-Matetee und Gruibinger Spezialbier.

Warum werden Idealisten, die nur Gutes im Sinn haben, vom Schicksal gebeutelt? Eine Woche nach dem Festival brennt es in dem Garten erneut. Diesmal wird niemand verletzt, aber die Werkstatt liegt in Schutt und Asche. Die Polizei sagt: Brandstiftung. Die Ermittlungen werden mangels Erfolgsaussichten bald eingestellt.

Zunächst üben sich die El Palitos im Zweckoptimismus. Wo etwas Altes verschwunden ist, kann etwas Neues entstehen. Die Werkstatt soll wieder aufgebaut werden. Mit einem Spendenaufruf im Internet, einem Benefizkonzert und einem Stand beim Festival der Kulturen wird Geld gesammelt. Doch als das Baurechtsamt von den Plänen erfährt, platzt der Traum: Die Werkstatt war ein Schwarzbau in einem streng geschützten Grüngebiet. Die Flammen haben folglich bloß etwas zerstört, das gar nicht hätte existieren dürfen. „Spätestens an diesem Punkt war uns klar, dass sich alles, was auf der Welt passiert, hier im Kleinen widerspiegelt“, erzählt Santiago Carrara, 33 Jahre alt, langhaarig, vollbärtig, freischaffend, Vater zweier Kinder und El-Palito-Mitglied der ersten Stunde. „Es stand fest, dass wir etwas verändern mussten.“

Aber was? Wie kann das Ziel eines solidarischen und ökologischen Miteinanders beibehalten werden und gleichzeitig die Gefahr minimiert werden, weitere böse Überraschungen zu erleben? Nach langen Diskussionen, Vereinsaustritten und Neuzugängen lautet die Antwort: zurück zur Natur, zu einer friedlichen Koexistenz von Mensch und Pflanze. Der Garten soll kein stets offener Treff für Nonkonformisten mehr sein, sondern ein vorbildliches Urban-Gardening-Projekt.

Carrara und seine Mitstreiter hoffen auf einen Zuschuss der Stadt, beschäftigen sich mit Förderprogrammen und erarbeiten ein Konzept. „Wir wollen den natürlichen Landbau mit einer kreativen und sozialen Gesellschaft verbinden“, sagt er. Artenvielfalt statt Monokulturen. Kompost statt Chemie. Nachhaltigkeit statt Profitmaximierung. Grundsolide Ziele, die sich auch in den Richtlinien des Demeter-Verbandes oder dem Parteiprogramm der Grünen finden. Der Utopismus, der bei der El-Palito-Gründung herrschte, hat sich verflüchtigt. Das Experiment, dass sich mitten in Stuttgart, in einer 3500 Quadratmeter großen Oase, jeder völlig frei entfalten kann, ist gescheitert. „Wir wollen weg von unserem Hippie-Image“, sagt Santiago Carrara. Das bunt bemalte Tor ist nun oft verschlossen, und die El Palitos bleiben auch mal unter sich. Der Trip in eine andere Welt ist vorbei. Er hatte sich als zu riskant erwiesen.