David Schaber macht bei der Bahnhofsmission ein Freiwilliges Soziales Jahr. Foto: Olbort Foto: Olbort

Von Janey Olbort

Stuttgart - Sie sitzt auf einem der schwarzen Stühle in der Bahnhofsmission und schämt sich. Ihre Füße sind stark angeschwollen und entzündet. Ihre Schuhe kann die Frau nicht mehr ausziehen. Vor dem Arzt schäme sie sich, weil sie stinke, sagt sie. Eine Mitarbeiterin der Bahnhofsmission ruft trotzdem beim Rettungsdienst an, denn geholfen werden muss der Frau zweifellos. Bis der Arzt eintrifft, bekommt sie ein Brötchen zur Stärkung. Die Frau ist eine von vielen Gästen, die an diesem Tag in die Bahnhofsmission kommen. „Wir bieten Schutzraum für alle Notlagen“, sagt Leiterin Renate Beigert. Pro Tag zählt die Bahnhofsmission mehr als 100 Kontakte mit Hilfesuchenden. Dabei bekommt jeder Gast erst einmal etwas zu trinken oder, sofern Backwarenspenden vorhanden sind, ein Brötchen oder eine Brezel. „Das gehört zu unserem Prinzip der Gastfreundschaft“, sagt Beigert. Trotzdem ist ihr wichtig zu betonen, dass die Bahnhofsmission nur zum kurzen Verweilen gedacht ist. „Wir sind eine Anlaufstelle und keine Beratungsstelle oder Tageseinrichtung.“ Ihre Gäste werden nach einem Gespräch an entsprechende Stellen weitergeleitet, etwa an die Psychiatrie oder an Obdachlosenunterkünfte. „Wir haben eine Lotsenfunktion“, sagt Beigert. Die Bahnhofsmission dient als Anlaufstelle für Menschen mit Problemen jeglicher Art. Manchmal reiche es auch „einfach nur ein offenes Ohr zu haben“. Es bedarf keiner existenziellen Lebenskrise, um das Angebot der Bahnhofsmission in Anspruch zu nehmen. „Selbst wenn Leute nur einmal kurz ihr Handy laden wollen, können sie vorbeikommen.“

Die kirchliche Bahnhofsmission ist ökumenisch und wird vom Verein für Internationale Jugendarbeit Württemberg sowie dem Katholischen Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit der Diözese Rottenburg-Stuttgart getragen. Gegründet wurde die Einrichtung vor mehr als 100 Jahren, um Frauen und Mädchen, die für die Arbeit vom Land in die Stadt kamen, zu schützen. „Heute würde man sagen, das war Ausbeutung und Prostitution“, sagt Beigert. Auch 2017 steht der Schutz von Frauen und Mädchen im Vordergrund. Dennoch ist das Klientel bunt gemischt: Orientierungslose ältere Menschen, Obdachlose oder psychisch Kranke suchen bei der Bahnhofsmission Hilfe, genauso wie Menschen, die ein wichtiges Telefonat führen müssen. Mehr als die Hälfte der Gäste haben einen Migrationshintergrund, häufig handelt es sich um Arbeitsmigranten. Um die Sprachbarrieren zu überbrücken, behelfe man sich auch mit telefonischen Übersetzungen oder mit einem Zeigewörterbuch.

„Wir sind ein Seismograph der Gesellschaft“, sagt Beigert. Damit meint sie, dass sich gesellschaftlicher Wandel am Bahnhof und unter den Gästen in der Bahnhofsmission besonders stark abzeichnet. Beispielsweise nehme die Anzahl der psychisch erkrankten Gäste seit Jahren zu. Als Ursache vermutet Beigert unter anderem eine veränderte Arbeitswelt mit höherer psychischer Belastung. Ein anderes Beispiel sei die hohe Anzahl an Geflüchteten im Sommer 2015 gewesen.

Dass die „Anlaufstelle für kleine und große Nöte“, wie Beigert die Funktion der Bahnhofsmission beschreibt, ihr Angebot aufrechterhalten kann, ermöglichen neun hauptamtliche und mehr als 60 ehrenamtliche Mitarbeiter; gerade Mitarbeiter im Ehrenamt werden dringend gesucht.

Um mit den Herausforderungen umgehen zu können, werden die Ehrenamtlichen geschult. Etwa in Konfliktlösung, Deeskalation, Verständigung bei Sprachbarrieren oder im Umgang mit psychisch kranken oder dementen Menschen.

Außer den sozialen Diensten bietet die Bahnhofsmission auch Reisebegleitung an. Diese wird insbesondere in der Ferienzeit häufig in Anspruch genommen. Mitarbeiter der Bahnhofsmission begleiten dann Kinder oder auch Senioren auf ihrer Reise, helfen beim Umsteigen oder auf der Suche nach der passenden Anschlussverbindung. Außerdem gibt es Angebote zur Reisebegleitung wie Kids on Tour und Bahnhofsmission Mobil. Allerdings sind die Wege am Bahnhof in letzter Zeit länger geworden. Das liegt einerseits an der Baustelle für Stuttgart 21 und damit verbundenen baulichen Veränderungen und geänderten Wegführungen sowie am derzeitigen Übergangsquartier der Bahnhofsmission im ersten Stock des Bonatzbaus. Bis Anfang des Jahres befand sich die Einrichtungen zentral an Gleis 16. Aufgrund eines Brands im Februar folgte jedoch der Umzug in die neuen Räume. Ein weiteres Problem am Interimsquartier sind die Treppen in den ersten Stock. Dadurch ist der Zugang zur Bahnhofsmission nicht barrierefrei. Zudem haben die Räume keine Küche. Deshalb ist Beigert froh, wenn der blaue Container am Gleis 16 wieder bezogen werden kann. Die Versicherung trägt den Schaden voraussichtlich; wann der Umzug ansteht, ist jedoch unklar.