Auch in Zeiten des Arbeitsmarktbooms gibt es Menschen, die händeringend nach einem Job suchen. Foto: dpa - dpa

An einigen Menschen geht der Boom am Arbeitsmarkt vorbei – Expertin: „Der Lebenslauf ist kein Beichtpapier“

OstfildernEs waren fast 100 Bewerbungen. Das bedeutet, 100 mal Hoffnung geschöpft, 100 mal ein Anschreiben verfasst und 100 mal enttäuscht worden. Die gelernte Restaurantfachfrau und Köchin Anja Wijtowicz aus Ostfildern hat die Nase voll. Seit zwei Jahren sucht sie einen Job. Die bisherige Bilanz: Sechs Vorstellungsgespräche, keine feste Arbeitsstelle. „Die Selbstzweifel wachsen“, sagt Wijtowicz. „Es zeigt mir: Du bist nichts mehr wert für die Gesellschaft.“ Wijtowicz ist kein Einzelfall. Der Arbeitsmarkt ist in bester Verfassung. Die Arbeitslosenquote betrug im Juli im Kreis Esslingen 3,1 Prozent. Die Leiterin der Göppinger Arbeitsagentur, Thekla Schlör, sagt: „Der Arbeitsmarkt in der Region zeigt sich nach wie vor ausgesprochen positiv.“ 9204 Menschen waren im Kreis Esslingen im Juli arbeitslos gemeldet. 2738 Menschen davon langzeitarbeitslos. Trotz Booms gibt es viele Menschen, die vom Fachkräftemangel nur in den Nachrichten lesen. Wijtowicz macht vor allem ihr Alter für die lange Suche verantwortlich. Fast 50 Jahre alt ist sie jetzt. Da werde man von den Unternehmen „oft sofort aussortiert. Man wird abgestempelt“. 35 Prozent der Arbeitslosen sind 50 Jahre oder älter.

Heidi Boner-Schilling ist Geschäftsführerin der Coachingmeisterei in Böblingen. Und sie bestätigt die Vermutung. „Oftmals liegt die Einstellungsgrenze bei Konzernen schon bei 40 oder 45 Jahren“, sagt Boner-Schilling. „Das heißt nicht, dass Menschen über 50 Jahren keine Chance haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Die älteren Bewerber müssen nur anders an die Sache herangehen als 25-Jährige.“ Boner-Schilling hilft Menschen, die sich umorientieren möchten. Die Arbeitsagentur Göppingen, die auch für den Kreis Esslingen zuständig ist, organisierte vor einigen Wochen ein Seminar zum Thema „Umgang mit Niederlagen und Absagen“. Boner-Schilling leitete das Seminar. Und sie erlebte Menschen, die zunehmend gekränkt sind. „Es wird überall vermeldet, dass die Aussichten blendend sind und nach Fachkräften gesucht wird. Das ist ein Schlag ins Gesicht für jeden Arbeitssuchenden“, sagt Boner-Schilling. „Denn zur Wahrheit gehört dazu, dass trotzdem viele Menschen händeringend einen Job suchen.“

Vor allem junge, arbeitslose Ingenieure stoßen Boner-Schilling zufolge auf viel Unverständnis. „‚Du willst es nicht genug’, bekommen die Arbeitssuchenden dann zu hören“, erzählt sie. Dabei habe auch ein Maschinenbauabsolvent ohne praktische Einsätze seine Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Der Arbeitsmarkt sei keine Konstante, viele Menschen seien auf Wanderschaft, von einem Job zum nächsten, von der einen Befristung zur nächsten Befristung. „Die Statistik der Arbeitsagentur evaluiert zu ihren Gunsten, im Grunde genommen haben wir aber deutlich mehr Menschen, die auf Arbeitssuche sind.“

In Baden-Württemberg lag die Zahl der Menschen, die länger als zwölf Monate arbeitslos sind, im Juli bei 54 500. Das waren zwölf Prozent weniger als vor einem Jahr. Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Württemberg warnt aber: „Die Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit zeigt sich an der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit für Langzeitarbeitslose, die jetzt bei 595 Tagen liegt und im langfristigen Trend weiterhin steigt. Im Jahr 2009 lag die Dauer noch bei 421 Tagen, ein halbes Jahr weniger als heute.“

Hinter der Zahl an Menschen ohne Job stehen immer auch Einzelschicksale. Anja Wijtowicz ist Mutter eines 13-jährigen Sohnes, Hartz IV erhält sie nicht, da ihr Mann berufstätig ist und genug Geld verdient. Bis vor zwei Jahren war sie selbst berufstätig, hat nach ihrem Hauptschulabschluss vor allem in Küchen gearbeitet, mehrmals als Küchenleitung. Dann fingen die Probleme mit den Knien an. Zwei künstliche Kniegelenke und eine lange Reha-Phase zwangen sie, zurückzustecken. „Ich kann nicht mehr den ganzen Tag stehen“, sagt die 49-Jährige. Sie machte Online-Kurse, versuchte, auch kaufmännische Kenntnisse zu sammeln, um im Büro arbeiten zu können. Vergebens.

„Arbeitslos ohne Anspruch“, heißt es bei der Arbeitsagentur, wenn Menschen keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung haben. „Allerdings raten wir jedem, sich arbeitslos zu melden. Die Arbeitsagentur kann durch Maßnahmen, Vermittlungen oder Infoveranstaltungen helfen. Es viele Möglichkeiten“, sagt eine Sprecherin der Göppinger Arbeitsagentur.

An was liegt es aber, wenn jemand mehr als 100 Bewerbungen schreibt und es dann nur Absagen hagelt? „Die meisten haben eine korrekte Bewerbung“, sagt Boner-Schilling. „Allerdings muss die Bewerbung nicht nur korrekt, sondern auch attraktiv sein.“ Man müsse seine Bewerbung so aufbauen, dass dem Leser innerhalb weniger Sekunden klar sei, um was es gehe. „Ein Lebenslauf ist kein Beichtpapier, sondern ein Vertriebspapier.“ Das Anschreiben werde oft gar nicht gelesen, es gehe um den Lebenslauf. Die Trainerin betont dabei die Wichtigkeit von Netzwerken. „Wir haben einen kleinen offenen Arbeitsmarkt und einen riesigen verdeckten Arbeitsmarkt.“ Die 53-Jährige betreibt die Coachingmeisterei seit über zehn Jahren. Noch nie habe sie eine Stelle ausgeschrieben. „Das wäre viel zu aufwendig. Die Stellen, die wir suchen, suchen wir in unseren Netzwerken.“ So könne man gezielt geeignete Bewerber finden. „Viele denken, dass sie kein Netzwerk haben“, so Boner-Schilling. „Allerdings hat jeder Beziehungen oder kann welche aufbauen. Viele begrenzen sich auf die Stellen, die auf Jobportalen ausgeschrieben sind. Das ist zu wenig.“

Anja Wijtowicz hat auch Initiativbewerbungen abgeschickt: „Nur von 20 Prozent der Unternehmen habe ich die Meldung bekommen, dass meine Unterlagen eingegangen sind oder dass sich der Bewerbungsprozess noch hinzieht.“ Oft melde sich niemand. „Wenn ich anrufe, bekomme ich fadenscheinige Erklärungen.“ Die sehen dann so aus: Der Computer sei abgestürzt, die Mails nicht eingegangen oder der Ansprechpartner, der in der Bewerbung genannt war, sei nicht mehr im Haus. „Es ist eine Unkultur auf dem Arbeitsmarkt festzustellen. Auf Bewerbungen kommt oft keine Resonanz“, bestätigt Boner-Schilling. Man müsse als Bewerber zäh sein, vor allem im höheren Alter. „Das Bewerben ist dann oft mühsam.“ Anja Wijtowicz will die Hoffnung nicht aufgeben. Seit einigen Wochen hat sie einen Aushilfsjob als Köchin. Wieder in der Küche, wieder viel stehen. „Das ist nicht optimal, aber ein Anfang.“