Stuttgart - Weltpolitik, das ist das Terrain von Wolfgang Ischinger. Der Mann, der die Münchner Sicherheitskonferenz zu einer Marke gemacht hat, gilt als Doyen der internationalen Diplomatie. Gerade jetzt, da die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, sind seine Einschätzungen gefragt. Wir trafen ihn in einem Stuttgarter Hotel zum Interview.

Nach den Krawallen beim G20-Gipfel in Hamburg heißt es jetzt, die Zeit solcher Treffen sei womöglich vorüber. Was halten Sie davon?

Ischinger: Ich sehe das umgekehrt. Wir haben eine weltpolitische Lage, die gefährlich ist wie nie seit dem Zerfall der Sowjetunion vor 26 Jahren. Wir haben aktuell circa 65 Millionen Flüchtlinge auf der Welt. Wir haben eine schwere Konfrontation mitten in Europa, nämlich in der Ukraine. Wir haben Großkonflikte in der Nachbarschaft der Europäischen Union, im Irak knallt’s, in Syrien, im Jemen, neuerdings auch auf der arabischen Halbinsel, wegen Katar. Es herrscht in der Region also maximale Beunruhigung und Verunsicherung. Da spreche ich noch gar nicht von Konfliktfällen wie Nordkorea. Angesichts dieser Lage gibt es keinen Ersatz für ein Face-to-Face-Treffen der wichtigsten Mächte. Nie war es so wichtig wie jetzt, so ein Format zu haben.

Wie erging es Ihnen, als Sie am vergangenen Wochenende die Bilder aus Hamburg gesehen haben?

Ischinger: Ich war entsetzt, schockiert, wie alle anderen, die der Ansicht sind, dass wir eine Rechtsordnung haben, die es zu verteidigen gilt. Die Gewaltexzesse überlagern den Blick auf das eigentliche Geschehen beim Gipfel. Wir reden nur noch über das Schanzenviertel und nicht mehr über Weltpolitik.

Müssen Gipfeltreffen dieser Größenordnung in Großstädten stattfinden, wo es schwierig ist, nicht nur die Politiker und ihre Entourage, sondern auch die Bewohner zu schützen?

Ischinger: Machen wir uns nicht kleiner, als wir sind. Es ist nicht so, dass Deutschland nicht seine Städte schützen kann. Wir geben doch nicht die Rechtsordnung auf. Davon abgesehen: Sollen wir uns von Gewalttätern diktieren lassen, wo solche Gipfel stattfinden dürfen und wo nicht?

Der G7-Gipfel fand kürzlich auf Sizilien statt, 2015 auf Schloss Elmau in der oberbayerischen Provinz.

Ischinger: Der G7-Kreis ist wesentlich kleiner. Da geht das noch. Ein Treffen der G20-Regierungschefs mit ihren Delegationen kann nur in einer großen Stadt stattfinden. Schon deshalb, weil Sie Tausende von Hotelbetten der Oberklasse brauchen.

Die beiden Gipfeltreffen auf Sizilien und in Hamburg waren die ersten Auftritte des amerikanischen Präsidenten auf diesem Parkett. Wie hat er sich in Ihren Augen aus der Affäre gezogen?

Ischinger: Leider nicht viel besser, als zu befürchten war.

Was kreiden Sie ihm an?

Ischinger: Er hat sich vor allem so verhalten, dass er von seinen Stammwählern zuhause dafür gefeiert wird. Seine Anhänger denken, dass man durch einen Rückzug aufs Nationale - America first, auf Deutsch: Amerika alleine - etwas gewinnen kann. Meine Überzeugung ist: Das wird über kurz oder lang nicht zu einem Gewinn von Jobs, Wohlstand etc. führen, sondern zu Handelsbarrieren und ökonomischen Konflikten.

Welche Folgen befürchten Sie durch Trumps Gebaren noch?

Ischinger: Über ein halbes Jahrhundert hinweg waren die USA die Führungsnation des durch Werte verbundenen Westens. So, wie Trump sich verhält, unterstreicht er, dass Amerika diese klassische Rolle in der Weltpolitik nicht mehr als Priorität sieht. Das ist zutiefst zu bedauern. Wir haben keinen Ersatz für die Amerikaner. Wir haben momentan auch ohne Trump schon genug Chaos. Sein Verhalten wirkt wie ein Chaos-Beschleuniger.

Die amerikanische Politik besteht aber nicht nur aus Trump.

Ischinger: Die USA sind mehr als Trump. Daher dürfen wir nicht in einen fundamentalen Antiamerikanismus verfallen. Meine Hoffnung ist, dass auch unter Trump am Ende besonnene Kräfte wieder mehr Einfluss gewinnen. Erste Anzeichen dafür gab es schon in Hamburg, zum Beispiel bei der Frage Freihandel. Amerika wird und kann sich nicht über Nacht von seiner Rolle als Weltmacht verabschieden. Ohne Amerika sind Konflikte wie in Nordkorea, Katar und selbst der in der Ukraine nicht zu lösen.

Trump und Putin sollen sich in Hamburg näher gekommen sein. Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen den beiden?

Ischinger: Es ist ein großer Wert an sich, wenn die Präsidenten der beiden atomaren Supermächte sich auf Gipfelebene sehen und miteinander sprechen. Es war das erste Treffen zwischen Trump und Putin. Das allein ist den Aufwand in Hamburg wert gewesen. Hätte es Hamburg nicht gegeben, hätten die beiden sich monatelang darüber gestritten, wo man sich trifft. Da geht es dann um Gesichtswahrung. Das Aufeinandertreffen schafft zumindest die Möglichkeit, dass es zwischen Amerika und Russland wieder zu einem Dialog kommen könnte. Ein kleines zartes Pflänzchen, gewiss. Aber für die Weltpolitik ist das wahnsinnig wichtig.

Wie sehen Sie die Rolle der EU, gerade im Umgang mit Putin? Sind die Sanktionen gegen Russland das richtige Mittel?

Ischinger: Sanktionen verhängt man immer nur dann, wenn einem nichts Besseres einfällt. Sie wirken nach meiner Erfahrung nur dann, wenn es zugleich einen Verhandlungsprozess gibt. In der Ukraine-Krise ist der Verhandlungsprozess aber leider zum Erliegen gekommen. Also müssen wir uns erst recht die Frage stellen, ob die Sanktionen etwas bewirken. Wenn das Fazit ist, sie bewirken nichts, muss man über Alternativen nachdenken. Sanktionen dürfen nicht zum Selbstzweck werden.

Wie sehen Sie die Rolle der EU in der Weltpolitik, gerade angesichts der tektonischen Verschiebungen im globalen Machtgefüge?

Ischinger: Es wäre ganz wichtig, dass die EU eine größere Rolle spielt. Aber sie tut es - noch - nicht. Sie ist weder politisch so handlungsfähig, dass sie das könnte, noch hat sie die dazu nötige militärische Potenz. Nehmen Sie den Krieg in Syrien. Wegen dieses Krieges haben sich Millionen von Flüchtlingen auf den Weg nach Mitteleuropa gemacht, die Mitgliedsländer sind also direkt mit den Folgen konfrontiert. Warum hat die EU nicht schon vor Jahren alle am Syrien-Konflikt beteiligten Parteien und Länder zu einer Friedenskonferenz eingeladen? Sie hat den politischen Mut dazu nicht aufgebracht. Stattdessen hat man gewartet, bis Russland und die USA eine Friedensinitiative ergriffen haben. Die EU vertritt 500 Millionen Menschen. Aber wenn es irgendwo brennt, steht sie häufig eher am Spielfeldrand. Das muss sich ändern. Wir brauchen Handlungsfähigkeit und Selbstbewusstsein, um unsere Interessen weltweit angemessen zu vertreten.

Ist es nicht eine Illusion anzunehmen, die EU könnte ohne einen entsprechenden militärischen Apparat diese Rolle übernehmen?

Ischinger: Das ist es, keine Frage. Daher ist es Zeit, dass die EU aufhört, wesentliche Teile ihrer Sicherheit und ihrer Sicherheitspolitik outzusourcen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass unser amerikanischer Großpartner sich schon darum kümmert, wenn es irgendwo zum militärischen Konflikt kommt. Darauf können und dürfen wir uns nicht mehr verlassen. Außerdem schwächt diese Haltung das Ansehen Europas in der Welt. Man hat dann keinen Respekt vor der EU. Die Stärkung der EU muss das zentrale außenpolitische Ziel jeder künftigen Bundesregierung sein.

Das Interview führte Gerd Schneider.

Zur Person

Wolfgang Ischinger wurde 1946 in Beuren geboren. Der Jurist war jahrzehntelang im Auswärtigen Amt und im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik tätig und prägte diesen wie kaum ein anderer Diplomat. So galt er als Vertrauter des früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) und war maßgeblich an der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen der Nato und Russland beteiligt. Als deutscher Botschafter war er unter anderem in Washington, London und Paris. Seit 2008 ist er Chef der jährlich stattfindenden Münchner Sicherheitskonferenz. Ischinger ist Honorarprofessor an der Universität Tübingen und lehrt außerdem an der privaten Hertie School of Governance in Berlin.