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Zwei Todesfälle im Polizeigewahrsam verursachen Aufregung. Trotz ständiger Überwachung sind zwei Männer unbemerkt in ihrer Zelle gestorben. Das gab es seit fast 15 Jahren nicht mehr.

StuttgartEs schien ein normaler Fall zu sein. Der hilflose Mann, der betrunken in einer Stadtbahn in Bad Cannstatt aufgelesen worden war, hatte zwar weit über drei Promille – doch für die Polizei war so etwas trauriger Alltag. Bis zum Mittwoch. Da lag der 48-Jährige tot in einer Ausnüchterungszelle. Ungewöhnlich war auch der Fall eines 51-Jährigen nicht, der nach seiner Festnahme erst einmal ausgenüchtert werden sollte. Doch am Samstag, nur drei Tage später, lag auch er tot in seiner Zelle.

Zwei Tote binnen weniger Tage – und das in einer Einrichtung, die zur Vermeidung solcher tragischer Umstände extra eingerichtet worden war. Die Alkohol-Ambulanz der Polizei, amtlich Zentrale Ausnüchterungseinheit genannt, war im November 2001 im Gewahrsam des Polizeipräsidiums auf dem Pragsattel eröffnet worden, um bei medizinischen Komplikationen schnell helfen zu können. Zwischen 1986 und 2001 hatte es 19 Todesfälle in Polizeizellen gegeben – und die Polizei hatte bei der Politik Alarm geschlagen. Man könne nicht Polizeibeamte mit medizinischen Aufgaben belasten, für die sie nicht ausgebildet seien.

In Kooperation mit der Ärzteschaft und der Stadt wurde eine Zentralambulanz im Polizeigewahrsam eingerichtet. 15 videoüberwachte Plätze in acht Zellen im Erdgeschoss. Mit einem Arzt, der von 20 bis 6 Uhr Nachtdienst schiebt. „Über 14 Jahre hat es mit dieser Einrichtung keinen einzigen Todesfall mehr gegeben“, sagt Polizeisprecher Stefan Keilbach. Dabei hätten nicht nur medizinische Komplikationen schnell bereinigt werden können – auch so mancher versuchte Suizid wurde in letzter Sekunde verhindert.

Nun ermittelt die Ludwigsburger Kripo im Auftrag der Staatsanwaltschaft bei ihren Stuttgarter Kollegen. Zumindest bei dem 48-Jährigen, der am Mittwoch um 2.15 Uhr tot aufgefunden wurde, hat ein Gerichtsmediziner etwas mehr Klarheit über die Todesursache geschaffen. Der Mann hatte ein subdurales Hämatom, eine verborgene Gehirnblutung, die von außen nicht sichtbar war.

War der Betrunkene vorher gestürzt? Oder war es ein Schlag? Und wann könnte das gewesen sein? Seine Spur führt zurück zum Dienstag, 22. Januar. Nach Informationen unserer Zeitung saß der Mann aus Osteuropa nachmittags in einer Stadtbahn der Linie U 1 von Fellbach in Richtung Innenstadt. Der alkoholisierte Mann fiel Mitarbeitern der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) auf, die ihrerseits die Polizei verständigten. Eine Streife nahm den 48-Jährigen am Cannstatter Wilhelmsplatz gegen 15 Uhr in Empfang. Pusten konnte er noch – der Wert lag offenbar bei weit über drei Promille. Dennoch schien es notwendig zu sein, den Mann zu seinem eigenen Schutz in der Zentralen Ausnüchterungseinheit im Polizeipräsidium ausnüchtern zu lassen. Dazu habe man eine richterliche Anordnung eingeholt, heißt es in einer Mitteilung der Polizei. „Der Mann wurde einem Arzt vorgestellt, der die Haftfähigkeit bescheinigte“, sagt Polizeisprecher Keilbach. Alles normal also.

Doch dann wirkte sich offenbar die unbemerkt gebliebene innere Kopfverletzung aus. Bei einem Kontrollgang am Mittwoch um 2.15 Uhr lag der 48-Jährige leblos in der Zelle. Noch eine Stunde zuvor habe es keine Auffälligkeiten gegeben, heißt es bei der Polizei. Alle Wiederbelebungsversuche scheiterten. Die Gehirnblutung gilt nach der Obduktion als Todesursache. Wann und wie es entstanden war, sollen nun weitere Untersuchungen bei der Gerichtsmedizin Tübingen erbringen. Mit einem Ergebnis ist aber erst in mehreren Wochen zu rechnen.

Die Obduktion des 51-Jährigen, der am Samstag gestorben war, ist für diesen Dienstag vorgesehen. Der ebenfalls osteuropäische Mann hatte weit über zwei Promille, als er von Beamten der Sicherheitskonzeption am Freitagnachmittag in der Innenstadt dingfest gemacht wurde. „Gegen ihn lag ein Haftbefehl vor, weil er eine Geldstrafe nicht bezahlt hatte“, sagt ein Staatsanwaltssprecher. In solchen Fällen gilt: Wer nicht zahlen kann, muss in der Justizvollzugsanstalt seine Tage als Strafe absitzen. Vorher sollte der Mann im Polizeigewahrsam ausgenüchtert werden. Am Samstag um 5.25 Uhr, bei einem Kontrollgang, wurde er von den Beamten tot in seiner Zelle gefunden. Der anwesende Arzt und ein alarmierter Notarzt konnten nicht mehr helfen.

Fast 15 Jahre lang schien ein 43-jähriger Ladendieb das letzte Alkohol-Opfer gewesen zu sein, das in einer Polizeizelle starb. Im Februar 2004 war der Mann in einem Lebensmittelmarkt in der Eberhardstraße in der Innenstadt mit einer gestohlenen Flasche Schnaps erwischt worden, und als die Polizei anrückte, hatte er das Beweismittel auf seine Weise vernichtet: Er trank die 0,7-Liter-Flasche in einem Zug leer. Ein Arzt schrieb ihn haftfähig, doch der Körper machte nicht mehr länger mit. Der 43-Jährige starb in einer Zelle des Gewahrsams. Trotz Videoüberwachung, trotz Arzt in der Nähe. Ein Jahr davor, im Januar 2003, starb ein 66-Jähriger, der betrunken in Neugereut aufgegriffen worden war, in seiner Zelle. Herzversagen. Die Zentrale Ausnüchterungseinheit geriet kurz ins Zwielicht – doch dann kehrte für die nächsten Jahre Ruhe ein.

Zentrale Ausnüchterungseinheit

Die Einrichtung: Im Polizeigewahrsam des Stuttgarter Präsidiums an der Hahnemannstraße gibt es im Erdgeschoss eine sogenannte Zentrale Ausnüchterungseinheit. 15 Plätze in acht Zellen, videoüberwacht, ein anwesender Arzt im Nachtdienst. 30 Polizisten sorgen für einen Rund-um-die Uhr-Betrieb im Polizeigefängnis.

Die Auslastung: Jahr für Jahr landen durchschnittlich 2100 Betroffene in den Ausnüchterungszellen, 88 Prozent sind Männer. Die Polizei stellt fest, dass es bei 1500 Betroffenen, also bei über 70 Prozent, vorher eine ärztliche Haftfähigkeitsuntersuchung gibt. Beim Start der Einrichtung hatte es pro Jahr noch etwa 4000 hilflose Menschen gegeben, die untergebracht werden mussten.

Die Todesfälle: Von 1986 bis 2001 starben 19 Menschen an akuten Gesundheitsproblemen in Polizeizellen. In der zentralen Alkohol-Ambulanz waren von 2001 bis 2019 vier Tote zu beklagen.

Die Verweildauer: Wer in der Zelle landet, wird im Schnitt nach neun Stunden entlassen. Theoretisch fallen inklusive Reinigung und Gefangenentransport 160 bis 180 Euro Gebühren an, die von den meisten allerdings nicht gezahlt werden können.