Die fremde und faszinierende Welt der Seefahrer bringt Raoul Schrott dem Publikum nahe. Foto: Roberto Bulgrin - Roberto Bulgrin

„Eine Geschichte des Windes“ nennt der Literat Raoul Schrott seinen neuen Roman – „oder von dem deutschen Kanonier der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal. Bei der LesART stellte er sein neues Werk vor, das Geschichte aus der Perspektive eines kleinen Mannes zeigt.

EsslingenDie ferne Welt der Meere erobert der Tiroler Autor Raoul Schrott in seinem neuen Roman. „Eine Geschichte des Windes oder von dem deutschen Kanonier der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal“ (Carl Hanser-Verlag, 26 Euro) lautet der Titel des Werks, in dem der Autor bewusst auf Seitenzahlen verzichtet. In 170 knapp gehaltenen Kapiteln nimmt er sein Lesepublikum mit auf die Reise seines naiven „HannesGuckindieLuft“, geboren in Aachen, der sich im 16. Jahrhundert aus wirtschaftlicher Not auf dem Schiff verdingen musste. Er segelte mit dem portugiesischen Entdecker Fernando de Magellan, den er „Mägele“ nennt, um die Welt.

Spielerisch brachte der 1964 geborene Autor, der selbst Expeditionserfahrung hat, dem Publikum seiner Lesung im Rahmen der Esslingen Literaturtage LesART im Kutschersaal der Stadtbücherei nicht nur die kantige Sprache der Seeleute nahe. Schrott versteht es glänzend, sein Publikum zu unterhalten. Herrlich lebendig raffte er die historischen Fakten zusammen, bevor er aus seinem Roman las.

Abenteuerlust blitzt Schrott aus den Augen, wenn er von den Weltumseglern des 15. und 16. Jahrhunderts erzählt. In seiner Sprache rücken ihre Geschichten ganz nah. Er selbst habe in Schottland das Segeln gelernt, war aber auf großen Touren nicht selbst am Steuer, erzählt Schrott. Wunderbar blumig schwärmt er den gebannten Zuhörern vom Grab des Chansonniers Jacques Brel auf Hiva Oa vor, einer der Marquesas-Inseln im Pazifik, die zu Französisch-Polynesien gehören. Da fand der französische Künstler seine letzte Ruhe – wenige Meter entfernt vom Maler Paul Gauguin. Der Impressionist hat den Europäern mit seiner Kunst das Leben der Menschen in der Südsee nahe gebracht.

Romantische Verklärung ist Raoul Schrotts Sache nicht. Er erzählt von den dunklen Seiten der Weltumsegler, die von finanziellen Interessen getrieben waren. Und den Helden Magellan, der elegant gekleidet aus historischen Gemälden blickt, zeichnet er aus der Perspektive seines Protagonisten Hannes sehr kritisch: „Wir stellten uns Mägeles dicken Hals vor und seinen zornroten Kopf“, beschreibt der Kanonier den berühmten Ritter und Weltumsegler, der bei einem seiner Eroberungszüge in Mactan auf den Philippinen zu Tode kam.

Kein bisschen trocken bringt Schrott dem Publikum Kolonialgeschichte nahe. Im spanischen Sanlúcar de Barrameda startete Magellan 1519 seine Weltumsegelung: „Wenn Sie mehr wissen wollen, gehen Sie zu Rewe, da kommt Ihr Obst her“, merkte der Autor lachend an. In seinem Buch geht es auch um die dunklen Seiten des globalen Handels, der vor Jahrhunderten mit den Expeditionen der Seefahrer neue Kontinente erschloss. Dass einer wie Hannes aus Aachen, der „in seiner Gesellschaft zum Prekariat gehörte“, drei Mal die Welt umsegelte, fasziniert den Tiroler Literaten, der jahrelang in Irland gelebt und auf der Insel beim Schreiben aufs Meer geblickt hat.

„Was ist denn der aktuelle Bezug Ihres historischen Romans?“ hakte Moderatorin Susanne Kaufmann bei der Lesung im Kutschersaal nach. Der liegt für den Autor auf der Hand. „Die Figuren, über die ich im Roman schreibe, sind die Vorläufer der Neoliberalen.“ Aus seiner Sicht wird sich die Welt wieder in die Richtung von Krieg und globalen Kämpfen entwickeln, wenn immer mehr Politiker wie Donald Trump, Viktor Orbán oder Boris Johnson an die Regierung kommen. Da sieht der Literat deutliche Parallelen zur Gegenwart.

Beklemmend beschreibt „Eine Geschichte des Windes...“, was die Weltpolitik im 16. Jahrhundert für die kleinen Leute wie Hannes bedeutet, der erst als Kanonier, dann als Koch ein Befehlsempfänger war. Weil die Besatzung auf hoher See kaum Nahrung bekam, litten viele an der Vitaminmangelkrankheit Skorbut, die ihr Zahnfleisch bluten und wuchern lies. Fast als Einziger überlebte Hannes „Krieg und Gefangenschaft, Krankheit und Gift“. Ein welterprobter und gestandener Mann sei er, „darüber aber zaundürr geworden, derart schlotternd und abgerissen, dass selbst seine Häscher am Ende Mitleid mit ihm haben und ihm Hemd, Hose und ein paar Schuhe schenken...“ Scharf und lebendig zeichnet Schrott seine Hauptfigur, von der er nur den Namen in alten Schiffsbüchern erfahren hat. Das macht den Reiz seines neuen Werks aus.

Als „Schelmenroman“ versteht der Literat sein neues Werk. Mit allerlei List, im ständigen Überlebenskampf, muss sich sein Held durchs Leben schlagen. Raoul Schrott beschreibt das als Seiltanz: „Wie bewahre ich als Mensch Rückgrat?“ Das ist für ihn die zentrale Frage.