Von Gaby Weiß

„Die russische Literatur hat immer dem kleinen Menschen eine Stimme verliehen“, weiß Swetlana Alexijewitsch. „Russland ist einfach zu groß. Daher bringt es regelmäßig Super-Ideen hervor, die den Menschen zum Objekt machen, ihn sich unterwerfen, Individuen zum kollektiven Körper verbacken. Ich nehme diesen kollektiven Körper auseinander und untersuche seine Einzelteile.“ Daraus hat die weiß-russische Autorin ihren eigenen Stil entwickelt, den sie „Roman in Stimmen“ nennt. Ob das wirklich hohe Literatur sei, haben manche gefragt, als Alexijewitsch 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Das schwedische Nobelpreiskomitee hat darauf seine eigene Antwort gegeben und die Autorin 2015 mit der höchsten Literaturauszeichnung, die zu vergeben ist, bedacht. Nun darf sich das Esslinger Publikum selbst ein Urteil bilden, wenn die Nobelpreisträgerin die LesART eröffnet.

„Secondhand-Zeit“ heißt Swetlana Alexijewitschs Buch, und es erzählt vom „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“. Zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges drängt sich vielen der Eindruck auf, Russland sei noch immer auf der Suche nach seiner neuen Identität. Und was für das ganze Land gilt, das gilt für den Einzelnen noch viel mehr. Während hierzulande viele den Zeiten eines Gorbatschow nachtrauern, schlägt das Pendel in Russland schon wieder in die andere Richtung aus - selbst Stalin ist bei manchen nicht mehr verpönt. Doch wie lebt es sich in einem derart zerrissenen Land, das politisch und wirtschaftlich tief in sich zerrissen ist? Und dessen Anführer westlichen Beobachtern ein ums andere Mal Rätsel aufgibt, während er vielen Russen ein verloren geglaubtes Gefühl von Stolz auf ihr Land zurückgibt.

Swetlana Alexijewitsch lässt in ihrem Buch „Secondhand-Zeit“ (Hanser-Verlag, 27.90 Euro) unterschiedlichste Menschen zu Wort kommen. Sie erzählen von ihrem Leben in Russland, sie geben Einblicke in ihre Gedankenwelt und lassen im Zusammenklang, den die Autorin virtuos dirigiert, ein facettenreiches Kaleidoskop postsowjetischer Befindlichkeiten entstehen. Ist das Literatur? Die Nobelpreisträgerin überzeugt die Zweifler mit einem ausgezeichneten Buch.