Antje Wagner stellte mit „Hyde“ einen raffiniert aufgebauten Roman vor. Foto: Weiß - Weiß

Antje Wagner stellt bei LesART ihren geheimnisvollen Roman vor.

EsslingenWenn Antje Wagner mit einem neuen Buch beginnt, dann setzt sie sich einen weit entfernten Zielpunkt und schreibt darauf zu: „Ich brauche die Überraschung auf dem Weg. Wenn ich vorab schon jeden Plot-Point weiß, werde ich zum Sklaven meiner Einfälle. Und das langweilt mich. Ich mag nicht nur eine ‚Schreib-Maschine‘ sein.“ Sehr interessant erzählte die Schriftstellerin beim Literaturfestival LesART an Esslinger Schulen und im Kutschersaal von ihrer Arbeit als Autorin. Und hochspannend wurde es, als sie aus ihrem neuen Buch „Hyde“ (Beltz & Gelberg, 17,95 Euro) las.

Das ebenso attraktive wie unergründliche Cover spiegelt das dramaturgische Konzept des Buches: Die drei Bildebenen stehen für die drei Handlungsstränge, die Antje Wagner kunstvoll wie eine zylindrische Spirale umeinander schlängelt. Auch der geheimnisvolle Titel „Hyde“ bietet drei Deutungsmöglichkeiten: Er ähnelt nicht nur dem englischen „to hide“, das „verbergen“ heißt. Im Altenglischen steht „hyd“ für „Haut“. Und es erinnert an den das Böse verkörpernden Mr. Hyde aus Robert Louis Stevensons Klassiker „Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Aber der Rätselhaftigkeit nicht genug – auch der kryptisch formulierte Klappentext trägt nicht wirklich Erhellendes bei: „Das Buch ist ein gigantisches Rätselspiel. Man kriegt ein Puzzleteil nach dem anderen, und erst am Ende wird sich ein Bild ergeben, und es wird eine grausame Wahrheit ans Licht kommen“, steigert Wagner die Spannung. Weil „Hyde“ dramaturgisch und inhaltlich so originell, schräg, sperrig und widerständig ist, hat Wagner das Buch auf eigenes Risiko geschrieben, ohne vorab von einem Verlag eine Zusage für die Veröffentlichung einzuholen. Ihr Mut und die dreijährige Schreibarbeit wurden belohnt: „Hyde“ wird als „Spitzentitel“ besonders aufwendig beworben, Kritiker und Leser sind begeistert.

„Der Roman kippt“

Schon als Kind habe sie wahnsinnig gerne Survival-Bücher gelesen, in denen Menschen in der Natur überleben müssen, erklärte Wagner ihrem aufmerksam zuhörenden Publikum. Sie habe immer schon selbst einen solchen Überlebensroman, der in Deutschland spielt, schreiben wollen. Weil es aber hierzulande keine so ausgedehnten Waldregionen gibt, in denen man wochenlang herumirren muss, hat sie einen Kniff gewählt: Ein Vater und seine beiden Zwillingstöchter, Katrina und Zoe, leben in einer „Hyde“ genannten Blockhütte in einem Naturschutzgebiet in Thüringen, ohne Strom, ohne sanitäre Einrichtungen aber mit jeder Menge ungewöhnlicher Rituale. „Sie wollen dort so verborgen leben“, erklärte Wagner die Ausgangssituation. Die Mädchen leben im Einklang mit der Natur, haben ganz besondere Fähigkeiten entwickelt, können Fährten lesen, jagen, die Sprache der Pflanzen und der Tiere verstehen. Eines Tages aber geschieht eine Katastrophe, die Idylle endet abrupt. „Der Roman kippt“, sagt Wagner. Katrina wird herausgerissen und muss sich allein, mit großen Gedächtnislücken bei Pflegeeltern in der normalen Welt zurechtfinden. Wagner, die schon zwölf Bücher veröffentlicht hat und seit ihrem siebten Buch für Jugendliche schreibt, hat „Hyde“ für Erwachsene und für leseerfahrene Jugendliche ab 15 Jahren geschrieben. „Dieser All-Age- oder Cross-Over-Bereich ist eine handwerkliche und künstlerische Herausforderung“, hat sie erfahren. „Ein gutes Jugendbuch zu schreiben, ist schwieriger, als nur für Erwachsene zu schreiben“, behauptet sie und wählt das Bild eines Koffers: „Ich öffne ihn und hole all das heraus, was Jugendliche anspricht: Spannung, Abenteuer, Liebe, Überraschung. Wenn ich all das herausgenommen habe, dann hat der Koffer unten einen doppelten Boden mit weiteren Komponenten, Motiven und Elementen für Erwachsene.“

„Hyde“ ist überaus raffiniert aufgebaut. Der Roman ist nicht linear chronologisch erzählt, sondern mit wechselnden Zeitebenen und vielen dramatischen Wendungen. Alles dreht sich um die komplexen, gebrochenen Figuren. Vieles ist unheimlich und sonderbar, dunkel und abgründig, und alles ist miteinander verknüpft. Weil Antje Wagner nicht nur eine großartige Schriftstellerin, sondern auch eine gewiefte mündliche Erzählerin ist, gelingt es ihr, während der Lesung die Zuhörer in die Geschichte hinein zu ziehen. Auch wenn das angesichts der drei Handlungsstränge nicht ganz einfach ist, schafft sie es, ein Gespür für den anspruchsvollen Aufbau zu vermitteln. Ohne dabei allzu viel zu verraten und damit den Genuss am Selberlesen zu schmälern.