Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die sich kein Autor schöner ausdenken könnte. Ijoma Mangolds Leben ist voll von solchen Episoden. Wenn der profilierte Literaturkritiker die vergangenen 46 Jahre Revue passieren lässt, kommen ihm immer wieder Augenblicke in den Sinn, die bis heute in ihm nachklingen. Einen dieser Momente durfte das Publikum der Esslinger Literaturtage miterleben. Ijoma Mangold war gekommen, um sein autobiografisches Buch „Das deutsche Krokodil“ vorzustellen, und mancher mag sich nach dem Sinn des Titels gefragt haben. Als „deutsches Krokodil“ werden Lokomotiven der Baureihe E 94 bezeichnet. Ein solches Exemplar en miniature wollte der junge Ijoma unbedingt für seine Modelleisenbahn haben - viel lieber als jenes schwarze Holz-Krokodil, das zuhause in Dossenheim auf dem Fenstersims lag und ihn ständig daran erinnerte, dass er das Kind einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters ist. Obwohl das Geld zuhause chronisch knapp war, ging Ijomas Wunsch in Erfüllung. Doch irgendwann war er dem Modelleisenbahn-Alter entwachsen und eine Freundin der Mutter bekam die Lok für ihren Nachwuchs. Nun ist das gute Stück zu seinem ersten Besitzer zurückgekehrt: Die Freundin seiner Mutter lebt heute in Esslingen und brachte jene grüne Güterzuglokomotive zur Lesung in den Kutschersaal mit. Diese rührende Geste wurde zur Ouvertüre einer Lesung, die das Publikum so rasch nicht vergessen wird.

Diese Episode verrät viel über Ijoma Mangold und sein Buch. Der Literaturkritiker beschränkt sich nicht darauf, Geschichten und Erinnerungen mehr oder weniger gefällig aneinanderzureihen. So reflektiert und lebensklug einem der junge Ijoma im Buch begegnet, so nachdenklich, blitzgescheit und analytisch stark zeigt er sich heute auf jeder der 344 Seiten von „Das deutsche Krokodil“ (Rowohlt Verlag, 19.95 Euro). Vieles von dem, was er erlebt hat, könnte alltäglich und unspektakulär erscheinen, doch wenn Mangold zurückblickt, blitzt hinter vermeintlich Anekdotischem das auf, was Kritiker-Kollegen als „Gesellschafts- und Epochenporträt“ feiern.

Christian Dörmann, der Vize-Chefredakteur unserer Zeitung, der den Abend ebenso humorvoll wie kundig moderierte, hatte Mangolds Buch mit gemischten Gefühlen zur Hand genommen: „Hat einer mit 46 Jahren schon genug zu erzählen, um ein ganzes Buch zu füllen?“ Die Antwort hatte Dörmann nach wenigen Seiten: „Sie haben mich sofort gepackt.“ Denn die Geschichte eines Jungen mit dunkler Haut und dunklen Locken, der ohne Vater in Dossenheim aufwächst und dem viel schmerzlicher als vielen in seiner Umgebung bewusst ist, dass er anders ist als die anderen Kinder, berührt. Wenn Mangold von seinen Kindertagen erzählt, spricht er von „dem Jungen“. Und er lässt spüren, dass das Wissen um das eigene Anderssein belastend sein kann, auch wenn er sich nicht erinnern kann, offener Diskriminierung ausgesetzt gewesen zu sein. Dabei wollte der kleine Ijoma einfach nur „ganz normal“ sein und dazugehören. Und vor allem wollte er verstehen, was es mit seinem Anderssein auf sich hat.

So hat er alles getan, um nur ja dazuzugehören. Er hat Stempel gesammelt, weil ihm das ein Gefühl von Ordnung gab. Doch kaum hatte er ein Schriftstück sorgsam abgestempelt, da plagten ihn Zweifel, ob er etwas Falsches getan haben könnte, weil er keine Amtsperson war. Und irgendwann quälte ihn die Frage: „War ich überassimiliert, deutscher als jeder Deutsche? Ein Opportunist, der die Anpassung so weit trieb, bis die konservativen Väter meiner Freunde überzeugt waren, dass das deutsche Kulturerbe einzig in meinen Händen noch eine Chance auf ein Weiterleben hatte?“

Es ist ein angenehm feinsinniger und wohltuend (selbst-)ironischer Ton, den Ijoma Mangold anschlägt. Wie ein roter Faden zieht sich das ganz besondere Verhältnis zu den Eltern durch das Buch: Hier die heiß geliebte Mutter, die mit ihrer unkonventionellen Art das übersteigerte Bedürfnis des Jungen nach Normalität nur unzureichend bedienen konnte und die er dennoch über alles geliebt hat. Und da der Vater, der nach dem Studium in Deutschland zurück nach Nigeria ging und dort eine neue Familie gründete. Obwohl sich die Mutter bemühte, ein positives Bild des Vaters zu vermitteln, war er dem Jungen einerlei: „Man kann sich nur von einem Menschen verletzen lassen, zu dem es eine Nähe gibt. Die hatte ich nicht.“ Und als sich der Vater nach vielen Jahren meldete, um Ijoma nach Nigeria zu holen und als Nachfolger aufzubauen, hatte das fast skurrile Züge. Mangolds Schilderung seines ersten und bisher einzigen Besuchs bei der Familie in Nigeria gehört zu den eindrucksvollsten Momenten im Buch.

Muntere Pingpong-Plauderei

Selten hat das LesART-Publikum einen so vergnüglichen Abend erlebt wie diesen. Der Autor und der Moderator zeigten eine muntere Pingpong-Plauderei, die bei allem Unterhaltungswert viel Erhellendes bot. Auch wenn Ijoma Mangold in jungen Jahren nie mit offenem Rassismus konfrontiert war und auch wenn man ihn heute als einen der klügsten Köpfe im Land zu schätzen weiß, bleibt doch die Sorge, allein wegen des Aussehens nicht ernstgenommen zu werden: „Wenn ich in ein Lokal gehe, versuche ich, möglichst selbstbewusst aufzutreten - nicht dass mich jemand für den Spüler hält und mich in die Küche schickt.“ Das mag lustig klingen und lässt einen doch nachdenklich werden, was so genannte Normalität eigentlich heißt.